Protagoras aus Abdera

[573] Protagoras aus Abdera, älterer Zeitgenosse des Sokrates (vielleicht um 480 v. Chr. geboren). Er hielt sich in verschiedenen Städten Griechenlands und Unteritaliens auf und war wiederholt in Athen, wo Perikles und Euripides mit ihm verkehrten. Für seinen Unterricht erhielt er als einer der Ersten beträchtliche Honorare; auch soll er der Erste gewesen sein, der sich bereit erklärte, über irgendeine ihm vorgelegte Frage sofort zu reden, und soll die Förderung einer Sache durch die Redekunst (ton hêttô logon kreittô poiein) betont haben. Wegen einer Schrift (peri theôn), in welcher er erklärte, er wisse von den Göttern nicht, ob sie seien oder nicht, die Sache sei dunkel, das Leben reiche zu dieser Erkenntnis nicht aus (peri men theôn ouk echô eidenai outh' hôs eisin, outh' hôs ouk eisin), wurde er der Asebie angeklagt und aus Athen verbannt; auf der Reise nach Sizilien ertrank er.

P. ist der bedeutendste der griechischen Sophisten. Er zuerst geht in seinen Untersuchungen bewußt vom menschlichen Subjekt aus und gelangt dabei zu einem Subjektivismus und Relativismus, wobei er vielleicht von Heraklit insofern beeinflußt ist, als auch er alles als werdend, fließend betrachtet (tên hylên rheustên einai, Sext. Empir., Pyrrhon. Hypot. I, 217). Die Wahrheit ist nach P. etwas Relatives (tôn pros ti einai tên alêtheian, Sext. Emp. Adv. Mathem. VII, 60). Wir erkennen die Dinge nicht so, wie sie für sich, sondern nur so, wie sie in Beziehung zu uns sind, wie sie uns erscheinen (panta einai hosa pasi phainetai, Sext. Emp., Pyrrh. Hypot. I, 217). Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (wie) sie sind, der seienden, daß sie nicht sind (pantôn chrêmatôn metron anthrôpos, tôn men ontôn hôs esti, tôn de ouk ontôn hôs ouk estin, Diog. Laërt. IX, 51; Plato, Theaet. 152). Es soll (nach Plato) hier nicht der Mensch als generelles Subjekt, sondern als Individuum verstanden werden (hoia men hekasta emoi phainetai, toiauta men estin emoi, hoia de soi, toiauta de au soi. anthrôpos de sy te kagô , Plat. Theaet. 152 A; Cratyl. 385). Dann würde P. meinen, es gäbe ebenso viele »Wahrheiten«, als es individuelle Auffassungsweisen gibt, aber keine absolute objektive Wahrheit, und eine allgemeingültige (intersubjektive) eben nur soweit, als die Individuen miteinander in ihren Urteilen übereinstimmen. Das Sein fällt hiernach mit der Erscheinung eines Dinges für jemanden zusammen (ta phainomena hekastô tauta kai einai, Plat. Theaet. 158 A; alêthês ara emoi hê emê aisthêsis, l. c. 160 C). Alles ist (für die einen) wahr und (für die ändern) zugleich nicht wahr (Aristot. Met. VI, 10). So läßt sich denn auch über alles das Entgegengesetzte sagen (prôtos ephê dyo logous einai peri pantos pragmatos antikeimenous allêlois, Diog. Laërt. IX, 51 f.). Jedenfalls hat P. das Relative aller empirischen Erkenntnis betont und zum mindesten (nach einigen nur) den »generellen Subjektivismus« vertreten (Abhängigkeit der Wahrheit von der menschlichen Art zu erkennen). Die Sinneswahrnehmung erklärt P.[573] aus dem Zusammentreffen der äußeren mit der vom Sinnesorgan ausgehenden Bewegung (vgl. Fiat. Theaet. 152 ff.). Das Denken beruht auf der Wahrnehmung. Ob P. die Seele als bloßen Inbegriff der Erlebnisse (mêden einai psychên para tas aisthêseis, Diog. Laërt. IX, 51), also »aktualistisch« bestimmt hat, ist nicht sicher. Auf die Ethik hat P. den Subjektivismus wohl nicht ausgedehnt; hier fordert er Allgemeingültigkeit, wenn er auch vielleicht die Relativität des Rechtes lehrt (Plat. Theaet. 167 C).

SCHRIFTEN: Solche zählt Diogenes Laërtius (IX, 55) auf: peri eristikôn, peri tôn mathêmatôn, peri politeias, peri aretôn, antilogiai u. a., wobei letztere Schrift vielleicht eins ist mit der Schrift: Kataballontes (oder 'Alêtheia). – Vgl. DIELS, Fragmente der Vorsokratiker II. – NATORP, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems, 1884. – W. JERUSALEM, Zur Deutung des Homo-mensura-Satzes, Eranos Vindobonensis, 1893. – F. C. S. SCHILLER, Studies in Humanism, 1907. – GOMPERZ, Griech. Denker, 3. A. 1911. – A. HARPF, Die Ethik des F., 1884.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 573-574.
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