Sokrates

[684] Sokrates, der Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phainarete, ist geb. 470 oder 469 v. Chr. Er erhielt die übliche Bildung. wurde mit Geometrie und mit Astronomie und mit mancher Richtung der Philosophie (Anaxagoras u. a.) bekannt, hörte auch verschiedene Sophisten; auch war er einige Zeit als Bildhauer tätig. Er nahm an drei Feldzügen teil und kämpfte bei Potidäa (wo er Alkibiades rettete), bei Delion und bei Amphipolis, stets tapfer, ruhig, ausdauernd. Ein Staatsamt bekleidete er nicht und um seinen und seiner Familie Unterhalt war er wenig bekümmert, was ihm seine Frau Xanthippe verübelte, die übrigens ihren bösen Ruf nicht verdient. S. führte das Leben eines Philosophen und Jugendbildners, ohne aber gleich den Sophisten Honorar zu nehmen. Er leitete junge Leute zur Weisheit und Tugend an, ging zu den Vertretern der verschiedensten Berufe, lernte von ihnen und suchte auf sie aufklärend einzuwirken, indem er sein eigenes Nichtwissen eingestand und in dialektischer Weise, in der Unterredung über ein Thema aus diesen die richtigen Begriffe hervorlockte, nachdem er jene – durch die Widersprüche, in die er sie verwickelte – genötigt, ihre Ansichten zu berichtigen (Sokratische »Ironie« verbunden mit der »Maieutik«, der geistigen Entbindungskunst). Seinem Charakter nach war S. ein Mann von höchster Lauterkeit der Gesinnung, von größter Selbstbeherrschung und Bedürfnislosigkeit, tadelloser Reinheit des Lebenswandels, strengster Gesetzestreue und wahrer Frömmigkeit. Aber dies hinderte nicht, daß S. viele Feinde hatte, teils weil er kein Freund der Demokratie (die 403 ans Ruder kam) war, teils wegen seines Einflusses auf die Jugend, teils wegen der Mißdeutung, welche sein ganzes Treiben erfuhr. Im Jahre 399 v. Chr. klagten ihn Meletos, Anytos und Lykon an, daß er an die staatlich anerkannten Götter nicht glaube, neue Gottheiten einführe und die Jugend verderbe. Er wurde zunächst mit einer geringen Majorität, dann aber, als er anstatt eine Strafe für sich zu bestimmen, sich der Speisung im Prytaneum für würdig erklärte, mit einer größeren Stimmenzahl verurteilt, und zwar jetzt zum Gifttode, den er auch, jede Aufforderung seiner Freunde zur Flucht zurückweisend, mit erhabenster Seelenruhe erlitt[684] (399 v. Chr.). Geschrieben hat S. nichts; seine Lehren entnehmen wir aus den Berichten Platons, Xenophons, Aristoteles', wobei aber nicht immer ein ganz klares Bild herauskommt, weil einerseits Xenophon ein sehr nüchterner, philosophisch wenig befähigter Kopf ist, anderseits Plato seinen Lehrer Sokrates vielfach idealisiert hat.

S. teilt mit den Sophisten den Standpunkt der Abkehr von der Naturphilosophie und der Wendung zum menschlichen Subjekt (Forderung der Selbsterkenntnis). Aber er schlägt neue Bahnen ein, indem er dem sophistischen Sensualismus seinen Intellektualismus entgegenstellt und ihren Relativismus bekämpft. Es gibt nach ihm ein objektives, allgemeingültiges Wissen, aber es ist nicht gegeben, sondern muß erarbeitet werden, durch methodisches Denken. So schwankend die individuellen Vorstellungen von den Dingen sein mögen, der richtig gebildete Begriff geht auf das Wesen der Dinge, ist allgemeingültig, konstant. Durch logische Induktion (wie Aristoteles das Verfahren nennt) ist das Wesen der Dinge (ezêtei to ti estin. – ti hekaston eiê) zu finden, zu definieren, am besten auf dem Wege des Zusammendenkens, der Prüfung (exetasis), welches das in jedem schlummernde Wissen entlockt (ephê de kai to dialesthai onomasthênai ek tou syniontas koinê bouleuesthai dialegontas kata genê ta pragmata,, Xenoph., Memor. IV, 5, 12; S. sucht tous t' epaktikous logous kai to horizesthai katholou, Aristot., Met. XIII, 4; epi tên hypothesin epanêgen an panta ton logon,, Xenoph., Memor. IV, 6, 13 f.).

Das begriffliche, induktorisch-definitorische Verfahren wendet nun S. besonders auf dem Gebiete der Ethik an. Er betrachtet, »was fromm, was gottlos, was schön, was schimpflich, was recht, was unrecht sei« (Xenoph., Memor. I, 1, 16). Bedingung des guten Handelns ist das Wissen, die Einsicht, so daß Tugend geradezu ein Wissen ist (phronêseis ôeto einai pasas tas aretas...; logous tas aretas ôeto einai; epistêmas gar einai pasas, Aristot., Eth. Nicom. VI, 13). Die Tugend ist lehrbar, ist die Einsicht in das richtige Verhalten; niemand handelt schlecht als aus Unwissenheit, wer die rechte Einsicht hat, handelt auch gut. Jede Tugend ist ein Wissen (nomizô de kai tên dikaiosynên kai tên allên pasan aretên sophian einai, Xenoph., Memor. III, 9, 4f.; IV, 6). Das Gute ist eins mit dem wahrhaft Nützlichen, Heilsamen (chrêsimon, ôphelimon). Unsere Vernunft haben wir, um zu ermitteln, wozu ein jedes Ding nützlich ist. Alle wählen dasjenige aus, von dem sie glauben, daß es ihnen das Ersprießlichste ist; daher sind die, welche nicht recht handeln, weder weise noch besonnen. Wer das Schöne und Gute kennt, handelt auch danach, und nur die Weisen tun das Schöne und Gute; die Unweisen vermögen es nicht, und selbst wenn sie es wollten, würden sie Fehler begehen. Das mit der Tugend verbundene Glück muß man sich selbst durch Tätigkeit erwerben (eupraxia). Im Staate sollen nur jene herrschen, welche das Herrschen verstehen, so wie etwa auf dem Schiffe nur der Kundige herrscht (vgl. Plato).

Die (oberste) Gottheit ist die das Weltall ordnende und zusammenhaltende (syntattôn te kai synechôn), vernünftige Macht, welche unseren Blicken[685] sich entzieht, so unsichtbar wie unsere Seele, die »Lenkerin des Körpers«, ist, die »etwas vom Göttlichen hat« und unsterblich ist. Auf das Dasein einer Weltvernunft weist die Zweckmäßigkeit der Dinge hin (Teleologie). Die Menschen haben ihre Organe zu ihrem Nutzen erhalten und diese sind höchst zweckmäßig gestaltet (Nutzen der Augenlider, der Zähne, der Triebe usw.). Die Weltvernunft ordnet eben alles so, wie es ihr gefällt, denn die Gottheit ist so groß und gewaltig, daß sie alles zu gleicher Zeit sieht, hört, überall gegenwärtig ist und für alles zugleich sorgt (vgl. Anaxagoras). Wegen des Menschen haben die Götter die anderen lebenden Wesen geschaffen. Seiner Überzeugung, daß der Mensch einer göttlichen Leitung unterstehe, gibt S. auch durch den Hinweis auf das »Daimonion« (theion ti kai daimonion) Ausdruck, auf jene innere Stimme, welche ihn von dem Unrechten abhält (phônê tis gignomenê hê, hotan genêtai, aei apotrepei me toutou, ho an mellô prattein, protrepei dê oupote, Plato, Apol. 31 D).

Sokrates' größter Schüler ist Platon. Sokratiker sind Xenophon, Aischines, angeblich auch ein Schuster Simon, ferner die »einseitigen« Sokratiker Eukleides von Megara (s. Megariker), Phaidon aus Elis (s. Elische Schule), Menedemos und Asklepiades (s. Eretrische Schule), Antisthenes (s. Kyniker), Aristippos (s. Kyrenaiker) u. a.

Vgl. FOUILLÉE, La philos. de S., 1874. – JOËL, Der echte und der xenophontische S., 1893-1901. – DÖRING, Die Lehre des S. als soziales Reformsystem, 1895. – E. PFLEIDERER, S., Plato und ihre Schüler, 1896. – R. KRALIK, S., 1899. – C. PIAT, S., 1900; deutsch 1903. – G. ZUCCANTE, Intorno alle fonti della dottrina di S., 1902.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 684-686.
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