Sokrătes

[572] Sokrătes, 1) berühmter griech. Philosoph, Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phänarete, wurde um 469 v. Chr. in Athen geboren und starb daselbst 399. Er soll die Kunst seines Vaters erlernt und auch eine Zeitlang ausgeübt haben; eine Gruppe am Eingang zur Akropolis, bekleidete Charitinnen, galt für sein Werk. Zeitig gab er diese Beschäftigung auf und machte zu seiner Lebensaufgabe den in Gestalt von Unterredungen und im Gegensatz zu den Sophisten unentgeltlich erteilten Unterricht, zu welchem Zweck er seine materiellen Bedürfnisse auf das äußerste beschränkte. Er suchte vor allem solche Jünglinge zu klar denkenden und charaktervollen Männern heranzubilden, deren Geburt und Talent, wie bei Alkibiades und Kritias, vorhersehen ließen, daß sie späterhin einen großen Einfluß auf ihre Mitbürger üben würden. Doch vernachlässigte er dabei seine Bürgerpflichten, auch die militärischen, nicht. Obgleich dem Krieg abhold, beteiligte er sich an drei Feldzügen und rettete in der Schlacht bei Potidäa dem vom Pferd gestürzten Alkibiades durch mannhafte Verteidigung das Leben. Sein Streben nach unabhängiger Tüchtigkeit und seine Bemühungen,[572] die einzelnen selbständig zu machen, auch gegenüber der Überlieferung im Glauben, Gesetz und in der Sitte, ließen ihn in eine Reihe mit den Sophisten stellen, wobei freilich übersehen wurde, daß er gerade im Gegensatz zu dem bloßen Subjektivismus der letztern allgemeingültige Wahrheit und festbegründete Sittlichkeit für sich und andre suchte und gefunden zu haben glaubte. S. wurde bezichtigt, die Jugend zu verderben und andre Götter als die vom Staat anerkannten zu lehren. Als seine Ankläger werden genannt: ein mittelmäßiger Dichter, Meletos, ein Lederhändler und Demagog, Anytos, und ein Rhetor, Lykon. S. verteidigte sich in mutvoller und seiner würdiger Weise, ohne eine gewisse Reizung seiner Richter zu vermeiden. Nachdem er mit ganz geringer Majorität verurteilt war und nun selbst dem Herkommen gemäß einen Strafantrag zu stellen hatte, lehnte er letzteres ab, indem er ironisch an Stelle der vorzuschlagenden Strafe eine Belohnung seiner Verdienste durch Erhaltung auf öffentliche Kosten im Prytaneion forderte. Hierdurch erbittert, verurteilten ihn seine Richter mit größerer Majorität zum Tode. Während seiner Gefängnishaft unterhielt er sich mit einigen seiner Anhänger über philosophische Gegenstände und namentlich über den Tod. Das Anerbieten Kritons, ihm zur Flucht zu verhelfen, lehnte er ab. Mit der größten Gemütsruhe nahm er den Schierlingstrank und starb so in einem Alter von etwa 70 Jahren. Die große Bedeutung des S. ist neben seiner Lehre in der Anregung zu suchen, die er durch sein Leben und durch seinen Tod gab. Sein geistreichster und edelster Schüler, Platon, hat in seinen Dialogen Charakter und Gedankenkreis des Meisters, wenn auch in einer freien, dichterisch umbildenden Form, so doch mit jener Wahrheit, die auch der Dichtung innewohnt, dargestellt. Eine mehr nüchterne, aber der Wahrheit wohl mehr entsprechende Auffassung des S. findet sich in den »Memorabilien« Xenophons, der ebenfalls zu dem Kreise seiner Vertrauten gehörte.

Die Lehre des S. ist, da er selbst nichts geschrieben hat, nur durch seine Schüler auf uns gekommen. Als Philosoph kam er mit seinen Zeitgenossen, den Sophisten, darin überein, daß er, wie diese, den Schwerpunkt des Unterrichts in die lehrbare Methode und den Zweck, nicht, wie deren Vorgänger, die griechischen Naturphilosophen, in die Erkenntnis der Natur, sondern in die Ermittelung des dem Menschen Nützlichen legte; er unterschied sich aber von ihnen in wesentlichen Punkten. Seine Methode bestand nicht, wie die der Sophisten, in dem dialektisch-rhetorischen Kunststück, das Wahre falsch und das Falsche wahr scheinen zu lassen, sondern in der dialektischen Kunst, das Wahre als solches zu finden und zu erkennen; sein Zweck war nicht, wie bei jenen, auf die Erkenntnis des Nützlichen als des Guten, sondern vielmehr auf die des Guten als des allein wahrhaft, bleibend und allgemein Nützlichen gerichtet. Wegen seiner Abwendung von der Physik, in der man kein sicheres Wissen erreichen könne, ist von ihm gesagt worden, daß er die Philosophie vom Himmel auf die Erde herabgerufen, in die Städte und Häuser eingeführt und genötigt habe, über die Güter und Übel, über das Leben und die Sitten nachzuforschen. Im Gegensatz zu Fernerstehenden, die ihn wegen seiner dialektischen Methode zu den Sophisten rechneten, z. B. Aristophanes in den »Wolken«, ja ihn als »Erzsophisten« bezeichneten, wurde er von den ihm Nahestehenden, von seinen Schülern, insbes. von Platon, gerade wegen des sichern Wissens, das er durch seine Methode erreichen wollte, als deren diametraler Gegner erkannt und sein Bild als Ideal eines Weisen dem des Sophisten als des Zerrbildes eines solchen entgegenstellt. Das eigentlich Neue in der Kunst des S. bestand (nach Aristoteles) darin, einerseits von der Betrachtung des Besondern zum Allgemeinen aufzusteigen (Induktion), anderseits durch Ausscheidung des Unwesentlichen und Ungehörigen wie durch Zusammenfassung des Wesentlichen und Unentbehrlichen zum Begriff zu gelangen (Definition), welch letzterer, weil er der Sache selbst entspricht, immer derselbe bleibt, während das Allgemeine, weil es aus dem Besondern gewonnen worden ist, dieses letztere sämtlich in sich begreift. Diese Kunst wurde von S. in dialogischer Form geübt, durch geschicktes Fragen (erotematisch), aber zu dem Zweck, die Wahrheit an den Tag zu bringen, weshalb er sie selbst mit dem Handwerk seiner Mutter, der mäeutischen oder Hebammenkunst, verglich. Er verfuhr hierbei in der Weise, daß der Fragende, obgleich er der Wissende ist, sich unwissend stellt und von dem Gefragten, als ob dieser wissend wäre, belehrt zu werden vorgibt, während er diesen in Wahrheit belehrt; es wird deshalb diese Form des erotematischen Unterrichts als »sokratische Ironie« bezeichnet. Von diesem nur aus didaktischen Gründen gewählten Schein des Nichtwissens verschieden ist das dem S. gleichfalls in den Mund gelegte Eingeständnis wirklichen Nichtwissens, der anspruchsvollen Vielwisserei der Sophisten gegenüber. Durch diese seine Methode wollte S. einen festen sittlichen Grund schaffen und meinte, daß im Wissen die Tugend selbst schon gegeben sei, so daß auch die Tugend als Verwirklichung des Guten lehrbar, d. h. durch richtige Erkenntnis und Unterweisung zu bewirken sei; es sei unmöglich, das Gute zu wissen, ohne es zu tun. Er zeigt sich so als intellektualistischer Ethiker und hat nach dieser Seite hin sehr viele Nachfolger. In bezug auf sein eignes Handeln liebte es S., sich auf sein sogen. Dämonion als eine in seinem Innern sich kundgebende Stimme zu berufen, die zwar niemals ratend, aber stets warnend sich vernehmbar mache, wenn er etwas Unrechtes zu tun im Begriff sei (s. Sokratischer Dämon). Obgleich S. über den Kosmos nicht philosophieren wollte, hat er doch viel zur teleologischen Betrachtung der Natur beigetragen, da er eine weltordnende Vernunft nach Analogie der menschlichen Vernunft annahm. – Unter den Schülern des S. haben die sogen. Sokratiker einzelne Seiten seines Wesens (Eukleides und Phädon in der megarischen und elischen Schule die dialektische, Antisthenes und Aristippos in der kynischen und kyrenaischen Schule die moralische) einseitig entwickelt, während Platon allein die empfangenen geistigen und sittlichen Anregungen zu einem das Ganze der Philosophie umfassenden Gedankenbau ausbildete. Aus der antiken Literatur über S. sind die Platonischen Dialoge (insbes. »Kriton«, »Phädon« und die »Apologie«) hervorzuheben. Vgl. Lasaulx, Des S. Leben, Lehre und Tod (Münch. 1857); Alberti, Sokrates (Götting. 1869); Fouillée, La philosophie de Socrate (Par, 1874, 2 Bde.); Grote, Plato and the other companions of S. (5. Aufl., Lond. 1888, 4 Bde.); Krohn, S. und Xenophon (Halle 1874); Joel, Der echte und der xenophontische S. (Berl. 1893–1901, 2 Bde.); Döring, Die Lehre des S. als soziales Reformsystem (Münch. 1895); E. Pfleiderer, S. und Plato (Tübing. 1896); Pöhlmann, S. und sein Volk (Münch. 1899); Piat, Socrate (Par. 1900; deutsch, Regensb. 1903); Zeller, Philosophie der Griechen, 2. Teil, 1. Abteil. (4. Aufl., Leipz. 1889).[573]

2) S. Scholastikus, Kirchenhistoriker, geb. um 380 in Konstantinopel, wo er Rechtsanwalt war, schrieb eine bis 439 reichende Fortsetzung der Kirchengeschichte des Eusebios in sieben Büchern (hrsg. von Hussey, Oxf. 1853, 3 Bde., und Bright, 2. Aufl., das. 1893). Vgl. Geppert, Die Quellen des Kirchenhistorikers S. S. (Leipz. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 572-574.
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