Wahrheit

[311] Wahrheit, im logischen Sinne die Übereinstimmung unsrer Gedanken mit sich selbst und mit den allgemeinen Gesetzen des Denkens (formale) oder mit dessen Gegenständen, dem Sein (materiale W.). Sätze (wie z. B. die mathematischen und logischen), bei denen es sich nur um W. im ersten Sinne handeln kann, werden selbst formelle, solche, denen (mit Recht oder Unrecht) die zweite (wie z. B. den Lehren der Erfahrung) zugeschrieben wird, materiale oder reelle Wahrheiten genannt. Letztere zerfallen abermals in zwei Unterabteilungen: in physische Wahrheiten, die in der unmittelbaren Beobachtung der Erscheinungen, auch des psychischen Lebens, insofern diese dem innern Sinn sich wahrnehmbar machen, ihren Grund haben, und zu deren Erforschung die unbefangene Induktion oder der Versuch der geeignete Weg ist, und in historische Wahrheiten, deren Gegenstand der Vergangenheit angehört, aber durch Geschichtsdenkmäler, noch vorhandene Erzeugnisse und Spuren, Zeugenaussagen oder durch sonstige historische Berichte konstatiert ist. Da wir bei der Ausübung der Denkoperationen dem Irrtum und bei der Auffassung der gegebenen Wirklichkeit mannigfachen Täuschungen (Sinnestäuschungen) unterworfen sind, so gibt es weder im Bereich der formalen noch in dem der materialen Wahrheiten ein absolut sicheres Kennzeichen (Kriterium) der W., und es ist uns deshalb strenggenommen immer nur eine relative, niemals die absolute W. erreichbar. Außerdem erscheint es bei näherer Betrachtung fraglich, ob die Übereinstimmung unsrer Gedanken mit einem unabhängig von ihnen bestehenden Sein überhaupt erreichbar ist (vgl. Idealismus). Dessenungeachtet bleibt der Begriff der W., wie sie auch definiert werden möge, allen Einwendungen des Skeptizismus (s. d.) zum Trotz bestehen, da wir andernfalls auf den Gebrauch der Vernunft verzichten müßten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 311.
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