Denken

[640] Denken, die geistige Tätigkeit, durch welche Vorstellungsobjekte in Beziehung zueinander gesetzt werden. Von den auf unwillkürlichen psychischen Prozessen (z. B. Ideenassoziation) beruhenden Vorstellungsverbindungen unterscheidet sich die durch D. bewirkte dadurch, daß in jenem Falle die einzelnen Bestandteile auf Grund äußerer Umstände in Beziehung zueinander treten (zwei Dinge, die häufig zusammen wahrgenommen wurden, werden auch später, in der Erinnerung, meist in Verbindung miteinander vorgestellt), während für das D. die Beschaffenheit des Vorgestellten maßgebend ist, so daß die Beziehung, in welche Vorstellungsobjekte durch das D. gesetzt werden, jederzeit als in der eignen Natur der letztern begründet erscheint. Nur im uneigentlichen Sinne nennt man wohl bisweilen auch das freie Spiel der Vorstellungen, dem wir uns passiv überlassen, ein D. Das D. im eigentlichen Sinne setzt voraus, daß unter der Menge der sich jederzeit aufdrängenden Vorstellungen eine Auswahl getroffen wird und nur diejenigen festgehalten werden, die ihrem Inhalt nach mit einer gegebenen Vorstellung (dem Gegenstand unsers Nachdenkens) zusammenhängen. Unter den sämtlichen Erscheinungen des Seelenlebens ist daher das Wollen am nächsten mit dem D. verwandt, ja man kann das letztere geradezu als eine Art von Willenstätigkeit (die in diesem Falle Vorstellungen zum Gegenstande hat) betrachten. Dem entspricht auch die Tatsache, daß, wie das Wollen sich in der doppelten Form des Begehrens und Widerstrebens äußert, so auch das D. sich zwischen den Gegensätzen der Bejahung (Affirmation) und der Verneinung (Negation, s.d.) bewegt. Insofern nun die Verknüpfungen des Denkens den Inhalt des Vorgestellten betreffen, tritt alles D. von vornherein mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit auf. Mit jedem Denkakt oder Urteil (s.d.) ist das Bewußtsein verbunden, daß derselbe unabhängig von der augenblicklichen Verfassung des Subjekts und allen sonstigen äußern Umständen lediglich durch die Beschaffenheit der Objekte selbst bestimmt sei und also zu jeder andern Zeit und von jedem andern Subjekt ebenso vollzogen werden müßte. Freilich ist das D. nicht unfehlbar, aber die Berichtigung eines Denkaktes erfolgt immer wieder durch einen andern Denkakt; das D. kann nicht aus sich selbst heraustreten, und wenn man deshalb verlangt, daß dasselbe sich nach dem außer ihm liegenden Sein richten müsse, um gültig zu sein, so stellt man eine unerfüllbare Bedingung. Richtig ist, daß das D. sich nach dem Inhalte des Vorgestellten richten muß, der durch Anschauung (z. B. sinnliche Wahrnehmung) gegeben ist. Die Entwickelung der Denktätigkeit kann daher immer (z. B. beim Kinde) erst beginnen, nachdem die sinnliche Anschauung dem Geiste ein gewisses Material zur Verfügung gestellt hat, und fortwährend bleibt das D. an die Anschauung gebunden. Ein sogen. reines D., das, ohne daß ihm ein Stoff gegeben wäre, Erkenntnisse erzeugte, ist ein Unding. Während man hierüber allgemein einig ist, gehen jedoch die Ansichten darüber auseinander, wie weit das D. von der Anschauung abhängig ist; während der Empirismus (s.d.) annimmt, daß die sinnliche Anschauung schon alles das enthält, was in der denkenden Auffassung zum Ausdruck kommt (z. B. den Zusammenhang einer Ursache und ihrer Wirkung), behauptet der Apriorismus (s. a priori), daß die Begriffsformen im D. selbst entspringen und von ihm hinzugebracht werden (die Auffassung zweier Erscheinungen als Ursachen und Wirkung beruht, nach Kant, auf der Unterordnung derselben unter den nicht aus der sinnlichen Anschauung geschöpften Begriff der Kausalität). Dem reinen Empirismus gegenüber ist zunächst zu bemerken, daß das D. eine ihm eigentümliche, nicht von außen ihm aufgezwungene Gesetzmäßigkeit besitzt (vgl. Denkgesetze), der gemäß es Urteile, Begriffe und Schlüsse (s. diese Artikel) als eigenartige Erzeugnisse hervorbringt. Ferner geht das wissenschaftliche D. sicher insofern über die Erfahrung hinaus, als es einen durchgängigen Zusammenhang der Erfahrungstatsachen voraussetzt, von dem die sinnliche Auffassung nichts weiß. Noch weiter aber zeigt sich die selbständige Bedeutung des Denkens darin, daß es überhaupt nicht bei dem in der Erfahrung Gegebenen stehen bleibt, sondern an Stelle des sinnlichen Scheines eine nur begrifflich aufzufassende Realität setzt. Während der sinnlichen Wahrnehmung Farben, Töne, Wärme, Kälte etc. als Zustände der Dinge erscheinen, sieht das (wissenschaftliche) D. in ihnen nur subjektive Wirkungen und betrachtet als objektiv-real die unwahrnehmbaren Moleküle, Atome und ihre Bewegungen, weil sich nur so ein widerspruchsfreier Zusammenhang der Tatsachen gewinnen läßt. Die wissenschaftliche Weltansicht ist also jedenfalls außer durch die Tatsachen der Erfahrung auch durch die Forderungen des Denkens bestimmt. Spekulativ (vgl. Spekulation) nennt man das letztere dann, wenn es, wie in der Metaphysik (s.d.), sich ausschließlich durch das Bedürfnis nach Einheit und Zusammenhang leiten läßt und Begriffe (Ideen) erzeugt, die (wie die »Monaden« des Leibniz, die »absolute Substanz« des Spinoza etc.) sich aus der Erfahrung weder erweisen noch widerlegen lassen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 640.
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