Bewegung

[796] Bewegung, das Übergehen eines Körpers oder eines materiellen Punktes aus einer räumlichen Lage in eine andre. Die Orte, die ein in B. begriffener Punkt nacheinander einnimmt, bilden in ihrer stetigen Aufeinanderfolge eine gerade oder krumme Linie, den Weg oder die Bahn des Punktes; danach heißt die B. gerad- oder krummlinig. Gleichförmig ist eine B., wenn der sich bewegende Punkt in gleichen Zeitabschnitten von beliebig kleiner Dauer stets gleiche Strecken seiner Bahn durchläuft; ungleichförmig, wenn er in gleichen Zeiten ungleiche Strecken zurücklegt. Die B. eines Punktes ist vollkommen bekannt, wenn für jeden Augenblick seine räumliche Lage, ferner die Richtung und endlich die Stärke seiner B., d. h. seine Geschwindigkeit, bekannt ist. Die Geschwindigkeit eines gleichförmig bewegten Körpers oder Punktes wird ausgedrückt durch die Wegstrecke, die er in jeder Zeiteinheit (Sekunde) zurücklegt, oder durch das Verhältnis des in einem beliebigen Zeitabschnitt zurückgelegten Weges zur Größe dieses Zeitabschnittes. Bei gleichförmiger B. bleibt die Geschwindigkeit stets unverändert (konstant), die der ungleichförmigen B. ändert sich mit jedem Augenblick, oder sie ist veränderlich (variabel). Bildet man bei einer ungleichförmigen B. das obige Verhältnis für einen beliebigen Zeitabschnitt, so erhält man ihre mittlere Geschwindigkeit innerhalb ebendieses Zeitabschnittes. Um die wirkliche Geschwindigkeit für irgend einen Zeitpunkt anzugeben, muß man das Verhältnis ermitteln zwischen einer verschwindend kleinen Wegstrecke, die der ungleichförmig bewegte Punkt von jenem Zeitpunkt an durchläuft, und zwischen der verschwindend kleinen Zeit, die zur Durchlaufung dieser Wegstrecke erforderlich ist. Die so bestimmte Geschwindigkeit gibt die Wegestrecke an, die der bewegte Punkt in einer Zeiteinheit (Sekunde) zurücklegen würde, wenn von dem betrachteten Zeitpunkt an seine Geschwindigkeit sich nicht mehr veränderte. Die Änderung der Geschwindigkeit auf die Zeiteinheit bezogen wird Beschleunigung (s. d.) oder Akzeleration genannt.

Jede B. kann in zwei oder mehrere Teilbewegungen zerlegt und umgekehrt aus diesen Teilbewegungen zusammengesetzt gedacht werden. Wenn z. B. ein Bahnzug auf einer geneigten Bahn nach Nordwesten hinansteigt, so ist seine B. vollkommen gekennzeichnet, wenn die Richtung der Bahn und die ganze Geschwindigkeit des Zuges gegeben sind. Wir können den Vorgang aber auch so auffassen, daß der Zug sich gleichzeitig nach Norden, nach Westen und nach oben bewegt, und uns demnach seine ganze B. aus diesen drei Teilbewegungen zusammengesetzt vorstellen. Sind die Teilgeschwindigkeiten, die Komponenten der Gesamtgeschwindigkeit, nach diesen drei auseinander senkrechten Richtungen gegeben, so ist die Gesamtbewegung ebenfalls sowohl der Größe als der Richtung nach vollkommen bekannt. Die Zerlegung einer gegebenen Geschwindigkeit oder einer Beschleunigung in zwei beliebig gerichtete Komponenten und umgekehrt die Zusammensetzung zweier gegebenen Komponenten zu einer einzigen resultierenden Geschwindigkeit oder Beschleunigung (Resultante) erfolgt nach dem Satze des Parallelogramms (vgl. Parallelogramm der Kräfte). Diese Zerlegung ist von großem Nutzen, weil die Teilbewegungen häufig leichter studiert werden können als die aus ihnen zusammengesetzte Gesamtbewegung (vgl. Wurfbewegung). Werden zwei Punkte eines Körpers festgehalten, so bleibt diesem nur noch die Möglichkeit, sich um die durch jene zwei Punkte gehende gerade Linie als Achse zu drehen oder zu rotieren (Rotationsbewegung), wobei jeder seiner Punkte in einer zur Drehungsachse senkrechten Ebene einen Kreis (Parallelkreis) beschreibt. Wird nur ein Punkt eines Körpers festgehalten, so ist dieser zwar gehindert, im Raum fortzuschreiten, vermag sich dagegen um jede beliebige durch den festen Punkt gehende Achse zu drehen. Wird kein Punkt festgehalten, so ist die B. des Körpers vollkommen frei, indem nunmehr ein Fortschreiten nach jeder beliebigen Richtung und eine Drehung um jede beliebige Achse stattfinden kann. Man beurteilt die B. eines Körpers nach der Änderung seiner Lage gegen Körper oder Punkte seiner Umgebung, die als ruhend betrachtet werden wie die Erdoberfläche; die Erde ist aber nicht in wirklicher oder absoluter Ruhe, sondern nur in Beziehung auf die an ihrer Oberfläche bewegten Körper relativ ruhend; die beobachtete B. eines Körpers ist daher ebenfalls nur eine relative; seine absolute B. ergibt sich bei Berücksichtigung, daß er durch den Umschwung der Erde um ihre Achse gleichzeitig noch von Westen nach Osten geführt wird, daß er mit der Erde in ihrer Bahn um die Sonne sich bewegt, daß die Sonne samt ihrem ganzen Planetensystem in Bezug auf die Fixsterne im Weltenraum fortschreitet. Da aber auch die Fixsterne, auf die wir die B. der Sonne beziehen, mit uns unbekannten Geschwindigkeiten und Richtungen im Raum fortschreiten, so sind alle Bewegungen, die wir beobachten, nur [796] relative. Um die relativen Bewegungen einer beliebigen Anzahl von Punkten in Bezug auf einen derselben kennen zu lernen, brauchen wir nur der Geschwindigkeit eines jeden eine Geschwindigkeit hinzuzufügen, die der Geschwindigkeit dieses einen gleich und entgegengesetzt ist; dadurch wird dieser Punkt zur Ruhe gebracht, und die Bewegungen der übrigen Punkte in Beziehung auf ihn sind dieselben wie vorher. So scheint uns infolge einer unwiderstehlichen Täuschung die Erde mit den auf ihrer Oberfläche befindlichen Gegenständen stillzustehen, dagegen das Himmelsgewölbe mit den Gestirnen sich von Osten nach Westen um die Erde zu drehen, während doch die Erde sich in entgegengesetzter Richtung, von Westen nach Osten, um ihre Achse dreht. Überhaupt ist die scheinbare B. der Himmelskörper, wie wir sie beobachten, nichts andres als ihre relative B. in Beziehung auf die ruhend gedachte Erde. – Die Erörterung der bis hierher erläuterten Eigenschaften der B. bildet den Inhalt der mathematischen Bewegungslehre oder Kinematik (Phoronomie).

Newtons Grundgesetze der Bewegung.

Der physischen Bewegungslehre oder der Dynamik dienen die von Newton formulierten Grundgesetze der B. (axiomata s. leges motus) zur festen Grundlage. Das erste derselben, das Gesetz der Trägheit oder des Beharrungsvermögens, lautet: »Jeder Körper verharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen B. in geradliniger Bahn, solange er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, diesen Zustand zu ändern.« Da wir solche »einwirkende Kräfte« bei unsern Versuchen niemals zu beseitigen vermögen, so läßt sich jenes Gesetz, soweit es den Zustand der B. betrifft, nicht experimentell erweisen; da jedoch alle aus ihm gezogenen Folgerungen mit der Erfahrung übereinstimmen, die gegenteilige Annahme aber zu Widersprüchen mit den Tatsachen führt, so dürfen wir jenen Satz als durch die Erfahrung indirekt bestätigt ansehen. Das zweite Newtonsche Grundgesetz besagt: »Die Änderung der B. ist der einwirkenden Kraft proportional und findet in der Richtung der Geraden statt, in der die Kraft einwirkt.« Eine Kraft ist hiernach der Beschleunigung proportional, die sie in ihrer Richtung hervorbringt, und kann durch diese gemessen werden. Da jede Beschleunigung nach dem Satz des Parallelogramms in Teilbeschleunigungen zerlegt oder aus solchen zusammengesetzt gedacht werden kann, so muß dieser Satz auch für die Zerlegung und Zusammensetzung der Kräfte selbst gelten, da diese ja den von ihnen hervorgebrachten Beschleunigungen proportional sind (Parallelogramm der Kräfte) und demnach durch gerade Linien, die in der Richtung und Größe mit den Beschleunigungen übereinstimmen, dargestellt werden können. Soll einem Körper von doppelt so großer Masse (d. h. der doppelten Quantität Materie) in derselben Zeit die nämliche Beschleunigung erteilt werden, so ist eine doppelt so große Kraft nötig. Eine Kraft ist demnach nicht nur der von ihr hervorgebrachten Beschleunigung, sondern auch der Masse des bewegten Körpers proportional und kann demnach durch das Produkt dieser beiden Größen gemessen werden. Kräfte also, die, auf verschiedene Körper wirkend, gleiche Beschleunigungen erzeugen, müssen sich zueinander verhalten wie die Massen der bewegten Körper. – Wenn die der bewegenden Kraft äquivalente Änderung der B. durch das Produkt aus Masse und Geschwindigkeitsänderung (Beschleunigung) ausgedrückt werden kann, so muß die Größe oder Quantität der B. (Bewegungsgröße) selbst notwendig sich als das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit darstellen. – Das dritte Newtonsche Grundgesetz der B. lautet: »Bei jeder Wirkung ist immer eine gleiche und entgegengesetzte Gegenwirkung vorhanden, oder die Wirkungen, die irgend zwei Körper auseinander ausüben, sind immer gleich und entgegengesetzt gerichtet.« Ein Stein z. B., der auf einem Tisch liegt und auf denselben einen Druck ausübt, erleidet von seiten des Tisches einen ebenso großen Gegendruck. Mit derselben Kraft, mit der die Erde den Mond anzieht, wird sie wieder von dem Mond angezogen. Indem eine Kraft einen Körper beschleunigt, hat sie unausgesetzt einen ihr genau gleichen, aus der Trägheit des Körpers entspringenden Widerstand zu überwinden und leistet demnach eine Arbeit, deren Ergebnis die dem bewegten Körper mitgeteilte Bewegungsenergie oder lebendige Kraft ist; diese wird ausgedrückt durch das halbe Produkt aus der Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit. Vermöge der erlangten Bewegungsenergie besitzt aber der Körper die Fähigkeit, in Überwindung eines äußern Widerstandes dieselbe Arbeit wieder zu leisten, die auf ihn verwendet worden war, um ihn in B. zu setzen; er vermag z. B., indem er an einen andern Körper stößt und dadurch zur Ruhe kommt, diesem dieselbe Energie der B. zu erteilen, die er vorher besaß. Das Prinzip der Erhaltung der Energie, das uns in diesem Beispiel entgegentritt, erscheint, soweit es sich, wie hier, nur auf die Energie sinnlich wahrnehmbarer B. bezieht, als notwendige Folgerung der drei Newtonschen Grundgesetze. Diese Gesetze sind notwendig, aber auch hinreichend zum Verständnis der verwickeltsten Bewegungsvorgänge. Sie bilden die Grundpfeiler der analytischen Mechanik, die aus ihnen die Erklärung der einzelnen Bewegungserscheinungen entwickelt. Literatur s. Mechanik.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 796-797.
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