Bewegung

[97] Bewegung nennt man die Ortsveränderung eines Körpers, Ruhe dagegen sein Verharren an demselben Orte. Man unterscheidet zunächst absolute und relative Bewegung und Ruhe. Jene ist die an sich gedachte Ortsveränderung eines Körpers oder sein an sich gedachtes Verharren an demselben Orte im unendlichen Raume, diese seine Ortsveränderung oder sein Verharren an demselben Orte in Beziehung auf einen anderen Körper. – Alle wahrnehmbare Bewegung und Ruhe ist in Wahrheit nur relativ; mit der Idee der absoluten Bewegung und Ruhe überschreiten wir den Kreis der Erfahrung. Die relative Bewegung und Ruhe ist entweder wirklich oder scheinbar. Wirklich ist die Bewegung und Ruhe, wenn der bewegte Körper für bewegt und der ruhende für ruhend angesehen wird, scheinbar, wenn der bewegte Körper als ruhend und der ruhende als bewegt gilt. So ist[97] die tägliche Bewegung der Erde um ihre Achse und die Ruhe des Sternenhimmels wirklich, die tägliche Sternbewegung aber und die Erdruhe scheinbar. Ob eine Bewegung scheinbar oder wirklich ist, ist oft sehr schwer festzustellen. So ist die Achsendrehung der Erde jahrtausendelang nicht als wirkliche Bewegung erfaßt worden, und es hat schwieriger Forschungen bedurft, sie nachzuweisen und ebenso schwerer Kämpfe, die Wahrheit gegen das Vorurteil zur Geltung zu bringen. Auch im Leben ist es nicht immer leicht, über Scheinbarkeit oder Wirklichkeit einer Bewegung zu urteilen. Denken wir uns z. B. auf ein Schiff versetzt, das auf dem Äquator von Osten nach Westen fährt, und gehen wir ebenso schnell, als das Schiff fährt, auf demselben vom Bug zum Heck. Wie steht es dann mit Bewegung und Ruhe? Wir gehen scheinbar von Westen nach Osten – aber wir fahren ebenso schnell von Osten nach Westen – also schließen wir, daß wir wirklich ruhen; aber wir bewegen uns ja mit der Erdachsendrehung in bestimmter Geschwindigkeit von Westen nach Osten und mit der Erde um die Sonne andrerseits mit anderer Geschwindigkeit nach Westen und mit unserem ganzen Planetensystem in wieder anderer Geschwindigkeit und Richtung: Hier kümmern wir uns im alltäglichen Leben nur um das Nächstliegende und überlassen das Weitere dem wissenschaftlichen Forscher. – Zur Bestimmung jeder Bewegung gehört der vom Körper oder vielmehr seinem Schwerpunkt zurückgelegte Weg, die Bahn der Bewegung, und die Zeitdauer der Bewegung. Geradlinig heißt die Bewegung eines Körpers, wenn derselbe seine Richtung während der Bewegung unverändert beibehält, krummlinig, wenn er sie stetig ändert. Gleichförmig heißt die Bewegung eines Körpers, wenn er stets in gleichen Zeiten gleiche Wegstrecken zurücklegt, ungleichförmig, wenn dies nicht der Fall ist. Eine ungleichförmige Bewegung heißt beschleunigt, wenn die in gleichen Zeiten zurückgelegten Wegstrecken stets wachsen, verzögert, wenn sie stets abnehmen. Das Verhältnis des in einem bestimmten Zeitabschnitte zurückgelegten Weges zur Größe dieses Zeitabschnittes heißt die Geschwindigkeit des Körpers. Gleichmäßig beschleunigt oder verzögert heißt die Bewegung eines Körpers, wenn die Geschwindigkeit desselben in gleichen Zeiten gleichviel zu- oder abnimmt. – Die Bewegung führen wir vom Standpunkt des Dynamismus (s. d.) aus in jedem Falle auf verursachende Kräfte zurück, und in den [98] Bewegungen erforschen wir die Kräfte. Jede Änderung in dem Bewegungszustande eines Körpers leiten wir von einer Kraft ab. Wir fordern, daß kein bewegter Körper in Ruhe, kein ruhender in Bewegung geraten kann, ohne daß eine Kraft dies bewirkt. Der Kinetiker sucht ohne Kräfte mit dem Begriff Impuls auszukommen. Einfach nennen wir die Bewegung, wenn wir sie auf eine Kraft, zusammengesetzt, wenn wir sie auf mehrere Kräfte zurückführen. Wirken auf einen Körper zwei Kräfte in gleicher Richtung, so ist die Geschwindigkeit gleich der Summe, wirken sie in entgegengesetzter Richtung, so ist die Geschwindigkeit gleich der Differenz der Geschwindigkeiten, welche beide Ursachen, einzeln wirkend, dem Körper erteilt haben würden. Wirken auf einen Körper zwei Kräfte, deren Richtungen einen Winkel bilden, so erfolgt die Bewegung in der Richtung und Größe der Diagonale desjenigen Parallelogramms, welches sich aus der Richtung und Größe der beiden Kräfte ziehen läßt (Parallelogramm der Kräfte). – Eine Bewegung heißt frei, wenn ein Körper ungehindert der Wirkung der ihn bewegenden Kräfte folgen kann, unfrei, wenn ihm (wie bei einem Eisenbahnzug oder den Teilen einer Maschine) eine feste Bahn vorgeschrieben ist. Unter der Größe der Bewegung versteht man die Gewalt, die ein bewegter Körper auf andere auszuüben vermag. Die Größe der Bewegung ist gleich dem Produkt aus der bewegten Masse und der Geschwindigkeit. – Die Bewegung ist ein Grundphänomen alles Geschehens in der Außenwelt. Frühzeitig hat sich daher der Blick der Naturforscher und Philosophen auf diesen Begriff gelenkt. Während unter den griechischen Philosophen Herakleitos (um 500) lehrte, daß sich alles in der Natur beständig bewege (panta rhei), haben die Eleaten (6. u. 5. Jahrh. v. Chr.) die Realität der Bewegung gänzlich geleugnet und die Bewegung für Sinnestrug erklärt; vor allem hat Zenon (geb. zw. 490 u. 485) die Lehre des Parmenides von der Nichtexistenz der Bewegung streng zu beweisen versucht. Aber seine Beweise schließen den mathematischen Fehler in sich ein, daß sie nicht beachten, daß die Summe einer unendlichen konvergierenden Reihe unter einer endlichen Größe zurückbleibt. Auch Aristoteles (384-322), der in der Bewegung den Übergang vom Möglichen zum Wirklichen sah, hat das Wesen der Bewegung nicht verstanden, da er das Trägheitsgesetz nicht kannte und annahm, daß jeder bewegte Körper allmählich von selbst[99] zur Ruhe käme. Auch Kant (1724-1804) hat in seiner Erstlingsschrift das Wesen der Bewegung, obwohl es in seiner Zeit bereite richtig erkannt war, mißdeutet, aber in seinen späteren Schriften, z.B. den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, richtig bestimmt.

Die mehr oder weniger phantastischen Spekulationen der Philosophen über die Bewegung wurden zuerst durch Galilei (1564-1641) und dann durch Newton (1642-1727) (siehe Newtonsche leges motus) auf eine wissenschaftliche Grundlage gebracht. Vgl. Newton. Philosophiae naturalis principia mathematica 1687. Laplace, Mecanique celeste 1799f. Euler, Mechanica 1736. Möbius, Mechanik des Himmels, Lpz. 1843.

Interessant, aber verfehlt ist Trendelenburgs (1802 bis 1872) Versuch, alles, sowohl Sein als Denken, auf die Bewegung (räumliche und konstruktive) zurückzuführen und Raum und Zeit aus der Bewegung, nicht umgekehrt, die Bewegung aus Raum und Zeit abzuleiten. Vgl. Trendelenburg »Logische Untersuchungen«, 3. Aufl. 1870.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 97-100.
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