Raum und Zeit

[481] Raum und Zeit. Alles, was wir wahrnehmen und uns vorstellen, versetzen wir in Raum und Zeit. Bei jedem Ereignisse[481] fragen wir, wo und wann es geschehen ist. Der naive Mensch findet dabei nichts Auffallendes, während der Philosoph damit auf eines der schwierigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen Probleme stößt. – Zunächst ist klar, daß wir uns die Dinge, wenn wir sie in Raum oder Zeit versetzen, als Glieder einer Mannigfaltigkeit nebeneinander oder nacheinander vorstellen. Jenes geschieht bei den sogenannten Außendingen, dieses bei allen Veränderungen der Außen – und Innenwelt. Überlegen wir nun, was wir uns eigentlich unter Raum und Zeit vorstellen, so ergibt sich, wenn wir von allem abstrahieren, was in Raum und Zeit gedacht wird, daß wir uns den Raum als eine Form der Gegenstände und die Zeit als eine Form des Geschehens vorstellen. Für das naive Denken existieren diese Formen als etwas Selbständiges, vor dem Inhalte Fertiges und auf diesen Wartendes, der Raum als ein ungeheures Gefäß, welches alles umschließt (etwa eine Kugel), (vgl. Aristot. Phys. IV, 4 p. 212 A 15 ho topos angeion ametakinêton), die Zeit als der stetige Übergang von dem, was war, zu dem, was sein wird, als ein sich selbst bewegender Fluß. Jenen denkt man sich durch drei rechtwinklige Abmessungen von einem Punkte aus bestimmt, diese als eine immer entstehende, aber nie daseiende Linie von einer Dimension.

Nun lehrt aber die Erkenntnistheorie, daß die ganze Außen – und Innenwelt uns zunächst in unserem Bewußtsein gegeben ist; Raum und Zeit sind trotz aller Beziehung zum Wirklichen also nicht etwas, was den Dingen unabhängig von unserem Bewußtsein angehört, sondern wie jede Verbindungsform der Vorstellungen aus der Tätigkeit des Subjekts entspringt, so sind auch sie nur unter Voraussetzung eines Subjekts, das zur Wirklichkeit in Beziehung tritt, vorhanden. Diese Lehre von der transscendentalen Idealität von Raum und Zeit, die Kant (1724-1804) in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) und schon vorher (1770) aufgestellt hat, muß jetzt zu den gesicherten Resultaten der Erkenntnistheorie gerechnet werden. – Raum und Zeit scheiden sich nun bestimmt und klar von den Qualitäten der Empfindung; sie sind die extensiven Formen, in denen sich die Elemente der Empfindungen unmittelbar und in fester Ordnung zueinander, sowie auch in Beziehung zum Subjekte verbinden. Solche Formen sind aber nicht selbst Empfindungen. Und weil sie nur Verbindungsformen von Empfindungen, Wahrnehmungen und [482] Vorstellungen sind, können sie auch nicht unmittelbar als Wahrnehmungen oder Vorstellungen gegeben sein. Man kann sich den Raum zwar von allem Inhalt getrennt als absoluten oder reinen unendlichen Raum und die Zeit als leere unendliche Zeit denken, und die Mathematik stellt die ideale Forderung, sie sich so zu denken; aber jede wirkliche räumliche und zeitliche Vorstellung und Anschauung eines einzelnen Subjekts schließt trotzdem einen, wenn auch noch so verblaßten Empfindungsinhalt in sich ein. Der reine Raum und die reine Zeit wird niemals wahrgenommen oder vorgestellt, sondern nur gedacht. Andrerseits besteht gerade das Wesen der Verbindungsformen, die uns in Raum und Zeit vorliegen, auch darin, daß die Empfindungen sich unmittelbar und assoziativ ohne unseren Willen und unsere Aktivität mit einem gewissen Zwang, den wir erleiden, in sie hineinfügen, und daß diese Formen dann von den Wahrnehmungen aus durch Reproduktion in die Vorstellungen übergehen. Raum und Zeit haben darum empirische Realität und sind als sinnliche Formen der Anschauungen zu bezeichnen. Sie sind keine begrifflichen Formen und sind etwas stets Einzelnes, nie schlechthin Allgemeines. Sie wollen also wahrgenommen und vorgestellt, aber nicht nur gedacht sein. Nur gedachte Räume oder Zeiten sind keine Räume und Zeiten mehr. Absolute unendliche Räume und Zeiten sind also nichts weiter als Abstraktionen, die in Wahrheit nie vom Subjekte erreicht werden und nur als letzte ideale Forderungen der Philosophie und der Mathematik vorhanden sind. Mit Recht hat also Kant Raum und Zeit von den Kategorien (allgemeinen Begriffsformen) geschieden und als sinnliche Formen der Anschauung bezeichnet und ihnen empirische Realität zugeschrieben. – Die Frage ist nun weiter, ob sie als fertige Formen in der Seele liegen oder sich von Fall zu Fall aus den Empfindungen und Vorstellungen des Subjektes entwickeln. Jene Ansicht, die nativistische, wird Kant oft fälschlich zugeschrieben. Das beruht aber nur auf einem hartnäckigen Mißverständnis der Lehre Kants. Kant bezeichnet 1770 Raum und Zeit ausdrücklich als »ursprünglich erworben«, nicht als angeboren, und in der Kritik der reinen Vernunft (1781) findet sich nichts, was dieser Annahme widerspricht oder eine Änderung der Ansicht Kants andeutet. Das Apriori hat bei Kant nicht die Bedeutung: »angeboren«, oder »fertig im Bewußtsein gegeben«,[483] oder »vor aller Erfahrung gegeben«, sondern es hat nur die Bedeutung: »aus der Quelle der Vernunft, nicht von außen her entstehend«. Das Apriori kann sich somit in der Erfahrung und durch die Tätigkeit des Bewußtseins selbst erst entwickeln und bilden. Kant ist also bezüglich der Lehre von Raum und Zeit kein Nativist, wofür er häufig gehalten wird. Er hat zwar keine genetische Raumtheorie aufgestellt, aber sie läßt sich der Kantschen Lehre ohne Widerspruch hinzufügen. –

Es kann nun mit Raum und Zeit nicht anders stehn als mit unserem gesamten Bewußtseinsinhalt. Er entwickelt sich erst im Leben innerhalb der Erfahrung und wird schrittweise erworben ; und nur die Anlage zur räumlichen und zeitlichen Einordnung der Empfindung ist ein Besitz, den wir durch Vererbung auf der Stufe des höheren tierischen und des menschlichen Lebens bereits überliefert erhalten. – Wenn nun aber alle räumlichen und zeitlichen Vorstellungen sich erst innerhalb unserer sinnlichen Tätigkeit auf Grund der vorhandenen Anlagen entwickeln, so kann allerdings die Erkenntnistheorie die Idee einer strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit der uns bekannten Zeit- und Raumgesetze, wie sie Kant aufgestellt hat, nicht aufrechterhalten. Raum und Zeit entstehen mit unseren Vorstellungen von in der Wirklichkeit gegebenen Objekten und haben nur den Wert und die Bedeutung des Tatsächlichen. Die Mathematik, soweit sie aus diesen Vorstellungen hervorgeht, insbesondere die Geometrie, beruht auf Tatsachen und ist in ihren Fundamenten ebenso empirisch wie jede Wissenschaft. Aus dem Begriffe der Sinnlichkeit, Empfänglichkeit, Rezeptivität oder Verbindung läßt sich nie Raum und Zeit in der uns gegebenen Form ableiten, nie zeigen, daß Raum und Zeit so beschaffen sein müssen, wie sie sind; und der Gedanke der Möglichkeit anderer Räume und Zeiten wie die unsrigen läßt sich sehr wohl fassen, und wenn auch nie in Anschauung übersetzen, so doch mathematisch bestimmen und durchführen (s. Metamathematik). Alle geometrischen Lehrsätze haben also nur eine beschränkte Apodiktizität. Die spiritistische Phantasterei, einen mehr als dreidimensionalen Raum als wirklich gegeben anzunehmen, ist natürlich andrerseits durch nichts gerechtfertigt, und alle experimentellen Versuche ihn nachzuweisen sind Gaukelspiel und Betrug. Es gilt aber noch heute der Satz, den Gauß am 9. April 1830 an Bessel schrieb: »Nach[484] meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre zu unserem Wissen der selbstverständlichen Wahrheiten eine ganz andere Stellung als die reine Größenlehre; es geht unserer Kenntnis von jener durchaus diejenige vollständige Überzeugung von ihrer Notwendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, welche der letzteren eigen ist, wir müssen in Demut zugeben, daß, wenn die Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist, der Raum auch außer unserem Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.« Die Lehre von der transscendentalen Idealität des Raumes findet also erst ihre Ergänzung in der recht verstandenen und richtig gewendeten Lehre von dem empirischen Ursprunge von Zeit und Raum, mit der allerdings das Apriori im Sinne Kants als das Notwendige, Allgemeine, aus reiner Vernunft Stammende fällt und nur im Sinne der Entwicklungslehre bleiben kann. Aus den Bedingungen unserer geistigen und physischen Organisation hervorgehend, entstehen Zeit und Raum mit der Entwicklung des Empfindungslebens. Als Bewußtseinsformen sind sie nicht unmittelbar etwas Wirkliches, aber sie gehören zu dem Objektiven in unseren Vorstellungen, eben weil sie unmittelbar mit den Empfindungen verknüpft sind und die Einordnung in sie ohne Willkür und unter einem gewissen Zwange erfolgt. Im besonderen vollzieht sich die Entstehung der Raum- und Zeitvorstellung im Subjekte nach Wundts genetischer Verschmelzungstheorie, die an Lotze und v. Helmholtz anknüpft und der nativistischen Herings (geb. 1834) entgegengesetzt ist, in folgender Weise: Die Raumvorstellung ist nicht eine ursprüngliche Eigenschaft der einzelnen Empfindungselemente, wie es die Intensität und Qualität der Empfindungen sind, sondern sie setzt ein Zusammensein der Empfindungen als Bedingung voraus und ist die Form fester Ordnung der Sinnesqualitäten. Sie entsteht aus den Funktionen zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichtssinns, ist also die Form der Ordnung der Tastempfindungen und Lichtempfindungen. Der Blindgeborene erwirbt sie nur durch den Tastsinn, der normalsehende Mensch in ihrer feineren Ausbildung mehr durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn. Die Vorgänge, die beim Zustandekommen der Raumvorstellung durch den Tastsinn stattfinden, sind folgende: Ein Gegenstand kommt in Berührung mit dem Tastorgan und ruft eine Tastempfindung hervor. Hierbei bildet[485] sich eine bestimmte Vorstellung von dem Orte der Berührung, die darauf beruht, daß jedem Punkte des Tastorgans eine eigentümliche qualitative Färbung der Tastempfindung zukommt, die von der Qualität des äußeren Eindrucks unabhängig ist. Die lokale Färbung der Empfindung wird das Lokalzeichen (s. d.) der Empfindung genannt. Diese Lokalzeichen oder Ortsempfindungen schließen, jedes für sich, noch keine Raumvorstellung in sich ein. Mit diesen Ortsempfindungen verbinden sich nun aber die Bewegungen des Tastorgans, die von inneren Tastempfindungen begleitet sind. Die einzelne dieser inneren Tastempfindung schließt ebensowenig wie das Lokalzeichen die Raumvorstellung in sich ein. Aber durch die empirisch gegebenen Verbindungen der Empfindungen entsteht die räumliche Vorstellung. Mit je zwei Empfindungen a und b von bestimmter Lokalzeichendifferenz ist stets eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung b, mit einer größeren Lokalzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung g assoziiert. So ist die aus der Funktion des Tastsinns hervorgehende Raumvorstellung das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Lokalzeichen mit inneren intensiv abgestuften Tastempfindungen, und zwar bilden bei dieser Verschmelzung die äußeren Tastempfindungen die herrschenden Elemente, während die inneren Tastempfindungen hinter ihnen zurücktreten, wie etwa die Obertöne eines Klanges. Die Verschmelzung selbst ist eine doppelte, wenn auch gleichzeitige. Durch eine erste Verschmelzung ordnen sich die Qualitätsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems in ihrem Verhältnis zueinander nach den Intensitätsstufen der inneren Tastempfindung ; durch eine zweite verbinden sich die durch die Reize bestimmten äußeren Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsprodukten. Die äußere Tastempfindung wechselt mit der Beschaffenheit des objektiven Reizes; aber die Lokalzeichen bilden zusammen mit den inneren Tastempfindungen subjektive Elemente, deren wechselseitige Zuordnung bei den verschiedenen äußeren Eindrücken immer dieselbe bleibt, so daß die psychologische Bedingung für die dem Räume zugeschriebene Konstanz der Eigenschaften gegeben ist, die sich in der Lehre von der Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der räumlichen Gebilde ausspricht.[486] Die so erworbene Raumvorstellung ist natürlich reproduzierbar und kehrt in Erinnerungsbildern wieder.

Die Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, freilich in viel feinerer Ausbildung. Die Netzhautfläche verhält sich analog einem Tastgebiet, übertrifft es aber an Stärke. Auch bei dem Eintritt einer Gesichtsempfindung durch Einwirkung eines Lichtreizes auf die Netzhaut entsteht die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes, mit der aber die räumliche Vorstellung noch nicht verbunden ist; doch erfolgt hierbei die Lokalisation nicht wie beim Tastsinn durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden Punkt des Sinnesorganes selbst, sondern wir verlegen, ohne daß wir erklären können, warum dies geschieht, den Eindruck an das außerhalb des vorstellenden Subjektes und in irgend einer Entfernung von ihm gelegene Sehfeld. Mit diesen qualitativen Lokalzeichen des Gesichtssinnes, die mit den einzelnen Zuständen der Netzhaut zusammenhängen, verbinden sich die die Bewegungen des Auges begleitenden, ein intensiv abgestuftes System bildenden Empfindungen. Die Bewegungen des Auges spielen bei der Ausmessung von Strecken des Sehfelds eine ähnliche Rolle wie die Tastbewegungen bei Ausmessung der Tasteindrücke, jedoch so, daß die Bewegungen des einen Auges noch durch die des andern unterstützt werden. Mit der einzelnen Empfindung ist auch hier die räumliche Vorstellung nicht verbunden. Sie entsteht auf Grund der Verbindung der Empfindungen. Die räumliche Ordnung der Lichteindrücke ist also eine Einordnung des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems der Netzhaut in ein intensiv abgestuftes System der die Bewegungen des Auges begleitenden inneren Tastempfindung. Für je zwei Lokalzeichen, a und b, ist die bei der Durchmessung der Strecke a b entstehende Spannungsempfindung a ein Maß der linearen Raumgröße, während einer großem Strecke a c eine intensivere Spannungsempfindung je entspricht. So vollzieht sich also auch bei der Entstehung der Raumvorstellung durch die Vorgänge im Gesichtssinne eine Verschmelzung. Verschmolzen werden die in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten, die von den Arten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Lokalzeichen und die durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten intensiv abgestuften Spannungsempfindungen.[487] Auch hier ist die Entstehung der Raumvorstellung an die Vorgänge selbst gebunden, aber die Raumvorstellung ist ebenso reproduzierbar wie beim Tastsinn. Während aber beim Tastsinn sich die qualitativen Lokalzeichen mit den inneren, durch die Bewegung des Tastorgans verbundenen Bewegungen verschmelzen, verbinden sich beim Sehen die qualitativen Lichteindrücke mit den die Bewegungen der Augen begleitenden inneren Tastempfindungen, so daß hier von einem System komplexer Lokalzeiehen geredet werden kann. Die räumliche Lokalisation irgend eines Lichteindrucks erscheint demnach als das Produkt einer vollständigen Verschmelzung der durch den äußeren Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengehörigen Elementen jenes komplexen Lokalzeichensystems, und die räumliche Ordnung einer Mehrheit einfacher Eindrücke besteht in der Verbindung einer großen Anzahl solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Maßgabe der Elemente des Lokalzeichensystems gegeneinander abgestuft sind. Hierbei sind die von den äußeren Reizwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden Elemente, gegenüber denen die Elemente des Lokalzeichensystems selbst zurücktreten.

Die durch den Tastsinn und die durch den Gesichtssinn erworbenen Raumvorstellungen und ihre Erinnerungsbilder ordnen sich ineinander ein und ergänzen sich, und zwar so, daß beim Sehenden die letzteren vorherrschen und uns das Bild der Außenwelt liefern. Sie werden schließlich auf alle anderen Sinnesempfindungen übertragen. ( Wundt, Grundriß der Psychologie § 10.)

Die Bildung der Zeitvorstellungen erfolgt vornehmlich auf Grund von Tast – und Gehörsempfindungen ; doch sind die Bedingungen zu ihrer Entstehung auch bei anderen Empfindungen gegeben. Bei der Bildung der Zeitvorstellung durch den Tastsinn sind es nicht die äußeren, sondern nur die inneren Tastempfindungen, welche die Tastbewegungen begleiten, aus denen die Zeitvorstellung hervorgeht. Bei den Bewegungen, besonders bei den rhythmischen Bewegungen, z.B. der Beine und Arme beim Gehen findet ein regelmäßiges Wechseln qualitativ entgegengesetzter, spannender und lösender Gefühle statt, von denen das lösende sehr rasch verläuft, das spannende langsam zum Maximum aufsteigt, um dann plötzlich zu sinken, und bei deren Wechsel[488] die intensivsten Gefühlsvorgänge sich auf die Grenzpunkte der Perioden zusammendrängen. Die einfachsten zeitlichen Tastvorstellungen, die so entstehen, bestehen demnach in rhythmisch geordneten Empfindungen, die sich gleichförmig wiederholen. Für die Entstehung der Zeitvorstellung durch den Gehörssinn liegen die Bedingungen besonders günstig, wenn es sich um diskontinuierliche Tastfolgen handelt, bei denen den Zeitstrecken selbst jeder objektive Empfindungsinhalt fehlt, und die Gehörseindrücke selbst nur die Begrenzung der Zeitstrecken gegeneinander vermitteln. Auch hier füllen sich die objektiv leeren Zeitstrecken mit einem subjektiven Gefühls – und Empfindungsinhalt, der dem bei rhythmisch verlaufenden Tastbewegungen vollständig entspricht, und es wechseln steigende und erfüllte Erwartung, die auf Spannungsempfindungen des Trommelfells oder auf den inneren Tastempfindungen beruht, die sich mit einem unwillkürlichen Taktieren verbinden.

Verbindet man die Resultate dieser Beobachtung, die sich nur auf die günstigen Fälle der Entstehung der Zeitvorstellung bezieht, so ergibt sich, daß auch die Zeitvorstellung nicht an einer einzelnen isoliert gedachten Empfindung haftet, sondern aus der Verbindung psychischer Elemente hervorgeht. Auch hier ist der Vorgang der Entstehung eine Verschmelzung. Bei dieser ist der momentan gegenwärtige Eindruck, der am schärfsten und klarsten wahrgenommen wird und durch Gefühlselemente charakterisiert ist, immer derjenige, nach dem alle andern orientiert werden, wodurch die Vorstellung vom Fließen der Zeit entsteht. Die zeitliche Ordnung nach diesem Orientierungspunkte geschieht durch Hilfsmittel, die analog den Lokalzeichen Zeitzeichen genannt werden können und die im wesentlichen Gefühlselemente sind. Die Erwartungsgefühle sind die qualitativen, die inneren Tastempfindungen die intensiven Zeitzeichen. Die Zeitvorstellung ist daher ihrer Entstehung nach ein Verschmelzungsprodukt beider Arten der Zeitzeichen miteinander und mit den in die zeitliche Form geordneten objektiven Empfindungen. ( Wundt, Grundriß der Psychol. § 11.)

Aus der psychologischen Darlegung der Entstehung unserer Zeit- und Raumvorstellung ergibt sich, daß Zeit und Raum, soviel Analoges sie enthalten, weder gleichgesetzt, noch vollständig parallellisiert werden können. Die[489] psychologischen Grundlagen der Zeitvorstellung sind viel allgemeiner als die der Raumvorstellung. Die Zeit wird zur Ordnung aller unserer psychischen Elemente, zur Grundform der inneren Wahrnehmung und ist somit allgemeiner als die Raumform. Die Ordnung, die im Räume den psychischen Elementen gegeben wird, ist nur fest in bezug auf die Elemente selbst, aber veränderlich bezüglich des Subjekts, so daß wir die Möglichkeit einer Drehung und Verschiebung der räumlichen Gebilde ohne Änderung derselben zugeben. Die Ordnung, die dagegen in der Zeit den psychischen Elementen gegeben wird, ist fest auch bezüglich des Subjekts, so daß jede Veränderung in dieser Beziehung auch eine Veränderung der Zeitelemente zueinander herbeiführt. Der Raum hat drei Dimensionen, die Zeit nur eine; aber die Punkte in dieser Dimension sind nie zugleich gegeben. Auch völlige Parallelisierung von Raum und Zeit ist unmöglich.

Die Ansichten der Philosophen über das Wesen von Raum und Zeit haben sehr geschwankt. Die reale Existenz des leeren Raumes nahmen im Altertum die Pythagoreer, die Atomisten und Epikureer an, während die Eleaten sie leugneten. Platon (427-347) setzte Materie und Raum einander gleich. Beide sind ihm ein Nichtreales. Aristoteles (384-322) erklärte den Raum für die erste unbewegte Grenze des umschließenden Körpers gegen den umschlossenen und leugnete den leeren Raum (to tou periechontos peras akinêton prôton tout estin ho topos. Phys. IV, 4, p. 212 A 20). Die Stoiker lehrten die Existenz eines außerhalb der stofflichen Welt befindlichen unendlichen leeren Raumes. – Von den Neueren nahm Descartes (1596-1650) Raum und Materie für identisch, indem er als das Wesen des Körperlichen die Ausdehnung ansah. Für Leibniz (1646-1716) dagegen ist der Raum nur eine verworrene Vorstellung. In der sinnlichen Auffassung erscheint uns die Ordnung der Monaden als Ordnung koexistierender Phänomene. Kant (1724-1804) erfaßte den Raum richtig als sinnliche Form und lehrte seine transscendentale Idealität und empirische Realität. Seine Lehre von der Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Raumanschauung und Apodiktizität der Mathematik entspricht zwar dem rationalistischen Gesichtspunkte seiner Philosophie, ist aber nicht haltbar. Gegen sie sind von mathematischer Seite triftige Einwendungen namentlich von Lobatschewsky, Gauß, Riemann, v. Helmholtz u. a.[490] gemacht worden; die Raumtheorie Kants lebt also nur modifiziert in der Gegenwart fort. Den physiologisch-psychischen Prozeß, durch den die Raum- und Zeitvorstellung erworben wird, hat in neuerer Zeit im Anschluß an Lotze und v. Helmholtz vor allem Wundt (geb. 1832) festgestellt, der die Theorie des komplexen Lokalzeichens geschaffen hat. An Wundt sich anlehnend, gibt Hellpach (Die Grenzwissenschaften der Psychologie S. 142 ff.) eine ausführliche Theorie der Raumauschauung, die aber Mißverständnisse der Kantischen Lehren in sich einschließt.

Die Zeit ist nach Platon mit dem Himmel entstanden. Nach Aristoteles ist sie das Maß der Bewegung in bezug auf das Früher und Später (hoti men toinyn ho chronos arithmos kinêseôs kata to proteron kai hysteron – phaneron Arist. Phys. IV, 11 p. 220 A 24). Für den Stoiker war die Zeit ein unkörperliches Gedankenhaftes. Auch Cartesius (1596-1650) sah in ihr nur einen Modus des Denkens (modus cogitandi) und definierte sie nach Aristoteles als numerus motus. Ihm folgte Spinoza. Für Leibniz (1646-1716) war die Zeit l'ordre des possibilités inconsistentes. Kant (1724-1804) verbindet die Raum- und Zeittheorie miteinander. Ebenso wie der Raum, ist ihm die Zeit sinnliche Form, und zwar Form des inneren Sinnes und von transscendentaler Idealität. Ebenso wie vom Räume, lehrt er die Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Zeitvorstellung, ebenso wie in der Raumtheorie, will er die Apodiktizität der Mathematik mit auf die Apriorität der Zeitvorstellung aufbauen. Aber von dem Erscheinen der Prolegomena ab begeht er in seiner Zeittheorie den Irrtum, daß er den Zeitbegriff als Grundlage des Zahlbegriffs ansieht und nun die Arithmetik ebenso in Verbindung mit seiner Lehre von. der Zeit setzt, wie die Geometrie mit seiner Raumlehre. Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist von diesem Irrtum noch frei. Daß der Begriff der Zeit seine mathematische Verwendung erst in der Kombinations- und Reihenlehre findet, die Grundbegriffe der Arithmetik aber nichts damit zu tun haben, muß Kant gegenüber betont werden (s. Zahl); aber ebensowenig ist seine Parallelisierung von Zeit und Raum als richtig anzuerkennen. Nach Kant ist die erkenntnistheoretische Frage bezüglich der Zeit wenig behandelt und nur die psychologische Theorie von der Zeit gefördert worden. Eine Theorie andersartiger Zeiten, als unsere Erfahrungszeit ist, ist bisher nicht aufgestellt worden und dürfte ihre besondere Schwierigkeit haben, da mit Dimensionen bei der Zeit nichts[491] auszurichten ist. Neuerdings hat M. Palágyi (Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 1901) die Zweiheit der Raum- und Zeitanschauung geleugnet und beide durch den Begriff des » fließenden Raumes « ersetzen wollen. Aber seine Grunddefinition: »Der Zeitpunkt ist der Weltraum« und »Der Raumpunkt ist der Zeitstrom« begründen nicht die Idee der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit; denn der Zeitpunkt ist keine Zeit, und der Raumpunkt kein Raum. – Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 191 ff. Th. Isenkrahe, Idealismus oder Realismus. 1883. C. Stumpf, Psychol. Urspr. der Raumvorstell. 1873. Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik. 1869. B. Erdmann, die Axiome der Geometrie. 1877. Schlesinger, Substantielle Wesenheit des Raumes und der Kraft. Wien 1885. Wundt, Grundzüge der phys. Psychologie II. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechen-, Mathematik- und Physik-Unterrichts. München 1895.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 481-492.
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