Materie

[347] Materie (lat. materia, gr. hylê), Stoff, bedeutet allgemein philosophisch zunächst im Gegensatz zur Form das Ungeformte, Ungestaltete, Sachliche, das uns durch die Qualität der Sinnesempfindung gegeben ist, den Raum- und Zeitinhalt. So unterscheidet man z.B. die Materie eines Raumes von seiner Gestalt, die Materie eines Kunstwerkes von der dadurch ermöglichten Darstellung. Ebenso allgemein stellt Kant (1724-1804) der Form unserer sinnlichen Empfindungen (nämlich dem Raume und der Zeit) ihre Materie gegenüber, d.h. was wir durch die Empfindungen des Gehöre, Gesichts usw. im[347] Raume und der Zeit wahrnehmen, und ebenso schied er materielle Sittengesetze, welche vorschreiben, nach welchen Objekten wir streben sollen, von den formalen, die sich nur auf die Verhältnisse, wie unser ille sich entscheidet, beziehen. – Im engeren metaphysischen Sinne bezeichnet Materie den Inhalt der Erscheinungen. Eine ausreichende und feststehende Erklärung dieses Inhaltes ist bisher nicht gelungen. Die Philosophen haben je nach ihrer Gesamtansicht anderes darunter verstanden. Die Hylozoisten (Thales, Anaximandros, Anaximenes, Herakleitos) betrachteten einen oder mehrere der durch die Erfahrung bekannten oder hypothetisch angenommenen sinnlichen Stoffe (Wasser, Apeiron [s. d.], Luft, Feuer usf.) als Grundprinzip und schieden den Stoff noch nicht von bewegenden Kräften, sondern sahen diese als mit ihm eins an. Die Scheidung des Stoffs von der bewegenden Kraft vollzogen zuerst Empedokles (484 bis 424), der vier Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer) und zwei bewegende Kräfte Liebe und Haß (philia u. neikos) annahm, und Anaxagoras (500-428), der sich die Materie aus unendlich vielen qualitativ bestimmten Stoffteilchen (spermata) bestehend dachte und als bewegende Kraft einen weltordnenden Geist (nous) ansetzte. Die Atomisten (Leukippos und Demokritos, 5. u. 4. Jahrh. v. Chr.) stellten zuerst die Theorie auf, daß die Materie aus qualitätslosen, durch Gestalt, Ordnung und Lage sich unterscheidenden kleinsten Bestandteilen, den Atomen, bestände. Platon (427-347) setzte den Stoff als das Nichtseiende in Gegensatz zu den Ideen (den allgemeinen Begriffen), denen das substanzielle Dasein innewohnt; auch die Metaphysik des Aristoteles (384-322) beruht auf dem Gegensatz von Stoff und Form. Die Materie, der Stoff, ist das, was nur der Möglichkeit nach existiert (dynamis), die Form dagegen das Wirkliche (energeia), die Veränderung ist der Übergang aus jener in diese. Über das Verhältnis von Materie und Form stritt das ganze Mittelalter; ein Teil der Philosophen nahm eine Bestimmung der Materie durch die Form, der andere eine Entwicklung der Form aus der Materie an. Durch Cartesius (1596-1650) ward die Materie wieder neu bestimmt; da er den Gegensatz zwischen Denken (Geist) und Ausdehnung für einen metaphysischen, für den zweier Substanzen ansah, so erklärte er die Materie für die ausgedehnte Substanz im Gegensatz zum Geiste, der denkenden Substanz. Demgemäß leitete er alle körperlichen Vorgänge aus räumlich-mechanischen Veränderungen ab. Leibniz (1646-1716) setzte an Stelle der Ausdehnung[348] die Raumerfüllung, die nur durch tätige Kraft erfolgen kann, und fand die einzig tätige Kraft im Vorstellen. So gestaltete er die realen Dinge zu Seelenmonaden mit Vorstellungsgkräften um; die Materie war ihm daher nichts Reales, sondern nur die verworrene Vorstellung eines Aggregats von Monaden. Der Materialismus (s. d.) suchte im Gegensatz zu dem Leibnizschen Idealismus alles geistige Leben aus leiblichen Funktionen zu erklären und das ganze Dasein in Materie aufzulösen. Er stützte sich besonders auf die durch die Naturwissenschaft erneuerte alte Hypothese der Atome, welche zwar materiell, aber auch zugleich physisch unteilbar sein sollten. Kant (1724-1804) ließ dasjenige, was der Materie als dem im Raum Beweglichen eigentlich zu Grunde liege, auf sich beruhen, suchte aber die Undurchdringlichkeit und Kohäsion der Materie dynamisch durch anziehende und abstoßende Kräfte zu erklären. Die Identitätsphilosophie von Hegel (1770-1831) und Schelling (1775-1854) konstruierte die Materie aus einer Spannung relativ geistiger Kräfte oder Potenzen und erklärte Geist und Materie als an sich identisch, nur verschieden in der Erscheinung. Herbart (1776-1841) ließ die Materie aus nichtausgedehnten mit der Kraft der Selbsterhaltung ausgestatteten Realen bestehen, die in gewissen Fällen zu chemischer Vermischung gelangen sollen. – An der Materie, der Substanz der Physik und Chemie, finden wir Masse, Ausdehnung im Raume, Form, Volumen, Gewicht, aber sie selbst fassen wir damit ebensowenig wie durch Teilung in kleinste Teilchen; wir bleiben dabei immer außerhalb derselben und dringen nicht in ihr Inneres ein. Dieses können wir uns nur als einen räumlich geordneten Komplex von Energien denken, und auch mit diesem Begriff sind wir nicht befriedigt; denn wir eliminieren damit eigentlich den Begriff der Materie vollständig. So stehen wir mit den philosophischen Begriffen Materie und Form, Stoff und Kraft, Substanz und Energie, die mit einander zusammenhängen, wie mit vielen anderen Begriffen am Ende der Erkenntnis. Wir arbeiten mit diesen Begriffen allenthalben, aber können sie nicht anders als psychologisch ableiten und nicht von inneren Widersprüchen vollkommen befreien, noch über eine wenig besagende inhaltlose Erklärung hinausbringen. (Siehe Ursache, Substanz.) Kraft nennen wir dasjenige an einem Dinge, was wir durch bestimmte Wirkungen auf andere Dinge erkennen, Form ist das Ergebnis der Einwirkung der Kraft, Stoff dasjenige an einem Dinge, was unmittelbar[349] in der Empfindungsqualität unserem Bewußtsein gegeben ist. Die Form liegt vor in Zahl, Zeit und Raum, der Stoff in allem, was den Inhalt derselben ausmacht. – Nach den neusten naturwissenschaftlichen Auffassungen ist die Materie tatsächlich nichts anderes als »Träger der Energie« ja vielleicht nur eine besondere Form der Energie. Die Richtigkeit dieser Annahme ist wegen des unendlich kleinen Quantums Materie, welche bei der Erscheinung der verschiedenen Strahlungen dissoziiert wird, zur Zeit noch nicht nachweisbar. Sagt man also z.B., das Radium sende materielle Strahlen aus, so ist dies so zu verstehen, daß es Strahlen entsende, welche die Eigenschaft der Masse im heutigen Sinne habe. Nun besteht nach Thomson die Materie, beziehungsweise das Atom derselben aus Einheiten der Elektrizität, aus Elektronen (s. d.), in welche die Atome bei gewaltsamer Trennung wieder zu zerfallen vermögen. Demnach versteht man unter der Strahlung des Radiums nichts anderes, als daß es Elektronen entsendet, aus deren Wirkung. auf den Äther die merkwürdigen Eigenschaften, welche es besitzt, sich ergeben. Vgl. strahlende Materie. F. A. Lange, Gesch. des Materialismus. 6. Aufl. 1896. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 3. Aufl. Leipzig 1905.

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Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 347-350.
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