Realismus

[493] Realismus (lat. res, Sache) heißt in der scholastischen Philosophie des Mittelalters der Gegensatz zum Nominalismus. Er behauptet in seiner strengsten Form mit Platon, die Universalien, d.h. die allgemeinen Begriffe, seien vor den Dingen vorhanden (Universalia sunt ante res), und zwar (als ewige Ideen) in Gott und (als angeborene Ideen) in unserem Geiste. Diesen Standpunkt vertritt Anselm v. Canterbury (1035 bis 1109); ihm sind die Gattungs- und Artbegriffe nicht bloß subjektive Abstraktionen, sondern Wesen, welche vor den Einzeldingen existieren. Abälard (1079-1142) dagegen lehrte, andern er einen vermittelnden Standpunkt einnahm, sie seien in denselben (Universalia sunt in re), das Allgemeine sei zwar nur ein Gedachtes, aber als solches gehöre es nicht allein dem Bewußtsein an, sondern es habe auch seine objektive Realität in den Einzeldingen selbst, aus denen man es nicht abstrahieren könnte, wenn es nicht darin wäre. Der Gegensatz zum Realismus ist in der Scholastik der Nominalismus, für den das Allgemeine bloße Namen (flatus vocis) und nichts Wirkliches sind. Der Nominalismus wurde zuerst vertreten von Roscellin (geb. um 1050) und von Wilhelm von Occam (1347) erneuert.[493] Neuere Vertreter des Nominalismus sind Hobbes, Locke, Berkeley, St. Mill usw. Die ganze Streitfrage knüpfte besonders an die Einleitung des Porphyrius (233-305) zu Aristoteles' logischen Schriften (Isagoge in Aristotelis Organon) an, in der untersucht wird, ob die fünf Begriffe: Gattung, Art, Differenz, Eigentümlichkeit und Zufälliges substanzielle Existenz haben, ob sie ferner Körper oder unkörperliche Wesen seien, und endlich, ob sie von den sinnlichen Objekten gesondert oder nur in und an diesen existieren. Während Porphyrius selbst die Frage nicht entscheidet, beschäftigte sich das Mittelalter eifrig damit, weil die Theologie darauf fort und fort hinwies. Übrigens findet sich schon bei jenem selbst der entschiedene Realismus, bei Marcianus Capella der Nominalismus, während Boethius, Macrobius und Chalcidius vermitteln. Seit dem 16. Jahrhundert ist die Philosophie nominalistisch; doch erhob sich der alte Streit bei der Frage, ob es »angeborene Begriffe« gäbe oder nicht. Descartes (1596-1650) vertrat jene Ansicht, indem er seinen Beweis für das Dasein Gottes darauf stützte. Gott hat die Idee von sich dem Menschen schon im Mutterleib eingeprägt; doch sind die angeborenen Begriffe mehr nur Dispositionen, gleichsam involviert im Geiste, und kommen ihm erst allmählich zum Bewußtsein. Cudworth (1617-1688) kehrte vollständig auf Platons Standpunkt zurück; gegen ihn erhob sich Locke (1632-1704), ging aber in seiner Opposition zu weit, so daß Leibniz (1646-1716) wieder gegen ihn leichtes Spiel hatte, indem er nur die virtuelle Erkenntnis angeboren sein ließ. Kant (1724-1804) suchte den Streit dadurch zu entscheiden, daß er lehrte, der Stoff aller unserer Erkenntnis entstamme der sinnlichen Empfindung, die Form aber der Vernunft. Diese Form gehöre derselben a priori an, aber weder als fertige Vorstellung noch als Disposition, sondern als Funktion der Vernunft. – Die nachkantischen Philosophen waren zunächst wieder ganz realistisch, so Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Krause und Schopenhauer, während die neueste Philosophie vielfach dem Nominalismus zuneigt. Vgl. Nominalismus und Conceptualismus.

Eine andere Bedeutung hat das Wort Realismus in dem neueren philosophischen Sprachgebrauche erlangt, wo es den Gegensatz zum Idealismus (s. d.) bezeichnet. Hier ist der Realismus dasjenige monistische System der Metaphysik, welches dem Einzelnen, dem Körper, der Materie die Existenz[494] zuschreibt, und dem Allgemeinen, der Idee, dem Geiste die Existenz abspricht, oder doch nur eine sekundäre Art der Existenz läßt, wodurch alle geistigen Vorgänge zu Begleiterscheinungen des Körperlichen herabgesetzt werden. Der naive Realismus, die Weltauffassung des nicht philosophisch denkenden Menschen, stützt sich auf das Zeugnis der Sinne und glaubt ohne Kritik an die Wirklichkeit des Körperlichen. Der philosophische Realismus dagegen ist sowohl im Altertum wie in der Neuzeit ein Kind der sich zur Philosophie entwickelnden Naturwissenschaft. Er tritt meist im Zusammenhang mit der empiristischen Methode und der sensualistischen Erkenntnistheorie auf. Bald knüpft er mehr an die Erscheinungsform des Stoffes an und wird dann zum Materialismus, bald geht er mehr von den Bewegungsgesetzen des Stoffes und den im Stoffe wirksam erscheinenden Kräften aus und wird dann zum Mechanismus oder Dynamismus. Bei konsequenter und einseitiger Ausbildung zeigt er stets Hinneigung zum Atheismus. Im Altertum ist er als Atomismus von Leukippos und Demokritos (5. Jahrh. v. Chr.) und Epikuros (341-270) ausgebildet; seine klassische Epoche hat er im 18. Jahrhundert in Frankreich erlebt, wo er als Materialismus sich aus dem englischen Sensualismus, aus der Naturwissenschaft und aus dem Oppositionsgeist gegen Religion und Konvention entwickelte und eine lebendige Agitationskraft erlangt hat. Sein Hauptvertreter ist Lamettrie (1709-1751, l'homme machine. 1748). Das klassische Buch des französischen Materialismus ist das Systeme de la Nature (1770). Im 19. Jahrhundert hat der materialistische Realismus eifrige Vertreter in Deutschland gefunden in Feuerbach, C. Vogt, Moleschott, Büchner u. a. (s. Materialismus). – Soweit der Realismus als Naturwissenschaft auftritt, ist er eine sich auf die wahrnehmbare Außenwelt einschränkende folgerichtige und unanfechtbare, aber auf Abstraktion beruhende Gedankenkette. Aber soweit er Metaphysik sein will, kann er nie erweisen, daß die Welt der Sinneswahrnehmung mehr als die halbe wirkliche Welt ist, und so wird er durch seine eigenen Schlußfolgerungen über das Sinnenbild der Natur hinaus zu Ergänzungen aus der geistigen Welt gedrängt. – In der Ästhetik ist Realismus diejenige Richtung, welche das Schöne nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt sucht.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 493-495.
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