Gesetz

[237] Gesetz (lat. lex, gr. nomos) heißt im allgemeinen der Ausdruck des in einer Reihe von Vorgängen Wiederkehrenden oder einer Regel, wonach etwas zu geschehen hat. Kant definiert Gesetze als Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört (Metaph. Anfangsgr. der Naturw., Vorrede S. VII). Die Notwendigkeit, deren Ausdruck das Gesetz ist, ist entweder eine physische oder eine psychische oder eine logische oder eine moralische oder eine juridische. Es gibt daher Natur-, Seelen-, Denk-, Sitten- und Staatsgesetze. Im Sprachgebrauch ist der älteste Begriff des Gesetzes der juridische gewesen. Er ist vom menschlichen Handeln zur Natur gewandert, hat hier eine neue Gestalt genommen und kehrt mit ihr zum Menschen zurück, um auch sein Dasein in ein neues Licht zu rücken. (Eucken, geistige Strömungen 1904, S, 151.) Naturgesetz bezeichnet zunächst nicht Gesetz der Außenwelt, sondern ungeschriebenes Gesetz der menschlichen Natur (agraphos nomos) Erst bei den Stoikern wird der Name auf die Natur übertragen. Lukrez kennt den Ausdruck leges naturae. Aber erst die Neuzeit benennt allgemein die Gesetze des Geschehens Naturgesetze. (Vgl. Zeller, über Begriff n. Begründung der sittlichen Gesetze. 1883.) Die Natur– und Seelengesetze sind Gesetze, von denen es keine Abweichung gibt; es steht nicht in jemandes Belieben, sich von ihnen frei zu machen. Die Natur- und Seelengesetze sind Formeln für die Stetigkeit des Geschehens in der Natur und in der Seele, für die Resultate gewisser bleibender Verhältnisse; in ihnen fällt Notwendigkeit und Tatsächlichkeit zusammen. Es ist z.B. ein Gesetz, daß Eisen im Sauerstoff oxydiert; das heißt, es ist eine stets beobachtete Tatsache, daß Eisen durch Sauerstoff eine bestimmte Veränderung erleidet, oder Sauerstoff hat die Eigenschaft, d.h. die Kraft, Eisen zu. zersetzen; ebenso verhält es[237] sich mit den Fallgesetzen, mit dem Gesetz von der Erhaltung der Energie – es sind Ausdrücke für Vorgänge, die unter denselben Bedingungen immer wieder eintreten, und zwar, weil es nicht anders geschehen kann. Auch die Sprachgesetze schließen sich den Natur- und Seelengesetzen an und zeigen dieselbe Ausnahmelosigkeit wie jene. (Siehe Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte. 3. Aufl. 1898.) – Anders steht es mit den Denk-, Sitten- und Staatsgesetzen, welche sich auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Moral, der Geschichte, des Hechts, mit einem Wort, der menschlichen Kulturarbeit beseitigen. Diese sind von den Menschen geschaffen und aufgestellt, damit sie von Menschen anerkannt und befolgt werden. Weil diese aber Personen sind, d.h. Wesen mit Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, so steht es bei ihnen, ob sie den Gesetzen gehorchen wollen oder nicht. Daher finden wir, wenn wir die Geschichte der Individuen wie der Völker betrachten, daß sie so oft dasjenige, was ihnen die Gesetze gebieten, übertreten, indem sie ihren Trieben, Interessen, Gefühlen oder Gewohnheiten folgen. Darauf beruhen alle Fehler in der wissenschaftlichen Forschung, alle moralischen Gebrechen, alle Verstöße gegen die Ordnung des Staates. Der Unterschied zwischen den Natur- und Seelengesetzen einerseits und den logischen, moralischen, juridischen Gesetzen anderseits besteht also darin, daß jene eine Notwendigkeit, diese eine Verpflichtung in sich schließen; jene müssen, diese sollen befolgt werden; jene sind nur der Ausdruck der objektiven Verhältnisse, diese wenden sich an den Willen des Menschen. Daß jene unter denselben Bedingungen nicht zur Geltung kommen sollten, ist ebenso unmöglich, als daß diese nicht übertreten werden sollten. Damit hängt ein weiterer Unterschied zwischen jenen und diesen zusammen. Jene Bind induktiv, diese deduktiv gefunden, d.h. jene sind durch (vielleicht nicht immer zureichende und nie völlig abzuschließende) Beobachtung gewonnen, diese hingegen nicht allein aus der Erfahrung, sondern auch aus der Vernunft selbst abgeleitet. Ein Naturgesetz, welches durch eine Instanz nicht bewährt wird, muß umgestaltet werden; ein Vernunftgesetz, z.B. aus der Moral, bleibt gültig, auch wenn es hundertmal übertreten würde. Was die Vernunft als gut oder wahr oder schön oder recht usf. anerkannt hat, bleibt so, selbst wenn es Tausende von Menschen, ja zeitweilig gar die Mehrzahl derselben nicht anerkennen. Andrerseits zeigt sich bei tieferer[238] Betrachtung doch auch wieder eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen beiden Arten von Gesetzen. Beide werden von den Menschen durch ihre Erkenntnistätigkeit gefunden und aufgestellt, beide werden von ihnen fort und fort modifiziert entsprechend dem Stand ihrer Erkenntnis. Die Vernunftgesetze ferner, welche wir für die menschliche Gesellschaft aufstellen, beruhen auch auf der Natur, nämlich auf der über die ganze Erde verbreiteten Menschennatur, ebenso wie die Naturgesetze, welche wir finden, schließlich auch als Beweise einer objektiven Vernunft zu gelten haben – eine Auffassung, welche von der Metaphysik naher zu begründen ist. Vgl. Natur, Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit, Hypothese.

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Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 237-239.
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