Geschichte

[230] Geschichte (von geschehen) heißt, unmittelbar und objektiv erfaßt, die Summe von Veränderungen und Entwicklungen, welche einzelne Dinge oder Personen während ihres Daseins erleiden. Im allgemeinen hat jedes einzelne Ding, seine Geschichte, ein Baum, ein Stein, die Erde usf.; denn alles verändert sich fortwährend. Im engeren Sinne aber hat nur der Mensch eine Geschichte; denn er allein erlebt die Veränderungen durch sein Selbstbewußtsein und bestimmt sie durch seine Freiheit. Zunächst hat nur jeder einzelne Mensch seine Geschichte. Aber die Geschichte erweitert sich zu derjenigen einer Familie, eines Geschlechts, einer Stadt, eines Landes, eines Menschenalters, eines Jahrhunderts, ja der ganzen Menschheit. Von der Geschichte des einzelnen können wir also stufenweise bis zur Geschichte der Menschheit aufsteigen. Diese umfaßt nicht bloß die Entwicklung der Individuen und aller Völker, also die Entwicklung der Personen und Personengemeinschaften,[230] sondern auch die aller Tätigkeitsgebiete, welche der Mensch auszuüben gelernt hat, z.B. des Ackerbaus, des Handels, der Industrie, des Staatswesens, des Rechts, der Kunst, der Religion, der Wissenschaft usf. Jedes Zeitalter in der Entwicklung der Menschheit bildet eine bestimmte Stufe, und der Mensch erscheint auf solcher Stufe als abhängig von der Vergangenheit und bestimmt durch die vorausgegangene Geschichte. Andrerseits hat jede Zeit ihre eigenen Aufgaben und macht wie die vorausgegangenen Zeiten einen Fortschritt und wird ein die Folgezeit mitbestimmender Faktor. Es geht aus diesem Verhältnis im allgemeinen eine Schwierigkeit für die lebenden Menschen hervor, ein Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen dem Bestehenden und dem erst zu Schaffenden, zwischen der Fessel, die die Vergangenheit bildet, und dem Drang nach Freiheit, und denkende Zeitalter nehmen auch bestimmte Stellung zur Frage vom Werte und der Bedeutung des Geschichtlichen. Und gerade in der Gegenwart macht sich das Bedürfnis einer solchen Stellungnahme besonders geltend. Das 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus, versuchte unbekümmert um die Vergangenheit sich das Leben auf abstrakter, vernünftiger Grundlage neu zu gestalten, verlor aber dabei den Reichtum des Lebens aus dar Hand und gelangte nur zu unhaltbaren Schöpfungen. Das 19. Jahrhundert, das saeculum historicum, entwickelte nach dem Zusammenbruch des Rationalismus die historische Denkweise der Menschheit und gewann damit das tiefere Verständnis für die Gegenwart, schuf sich aber durch sein historisches Denken eine Schranke im eigenen Schaffen, eine schwer zu bewältigende Last und eine einengende Unfreiheit. Eucken (Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1904, S. 252 ff.) faßt daher das Problem dahin zusammen: »Wir können die Geschichte weder festhalten, noch entbehren; wir geraten ins Leere, wo wir sie abschütteln, wir verfallen in ein Schattenleben, wo wir uns ihr anschmiegen. Die Durchschnittsart mag sich demgegenüber mit Kompromissen behelfen und sich ein Mittelding von Freiheit und Knechtschaft gefallen lassen, eine energische Denkweise wird die Unmöglichkeit eines Kompromisses durchschauen und auf einer inneren Überwindung des Gegensatzes bestehen.« Die innere Überwindung des Gegensatzes sucht Eucken in einer Erhebung über die Zeit, in dem Streben nach Entfaltung einer zeitüberlegenen Geistigkeit, zu der in der Geschichte Anweisungen, Aufforderungen und Möglichkeiten liegen, die aber[231] selbst vom Zeitlichen zum Ewigen vordringt. In der Geschichte muß Vergängliches und Unvergängliches geschieden, aus ihr eine geistige Gegenwart herausgehoben und so aus der Vergangenheit ein Stück einer zeitüberlegenen Gegenwart gemacht werden, das in einer durchgreifenden Umwälzung, einem Aufsteigen einer neuen Art des Lebens besteht. Wer weniger idealistisch denkt, wird vielleicht anders als Eucken den Kampf zwischen Historismus, Rationalismus wenigstens in der Praxis, für eine fortdauernde, niemals zu beseitigende und zu versöhnende Erscheinung des Menschengeschicks ansehen. – Die Geschichte mittelbar und subjektiv erfaßt, ist die Erforschung und Darstellung des objektiven Geschehens; diese umfaßt im weitesten Sinne als Universalgeschichte zugleich alle Gebiete des Lebens in- und nebeneinander; da eine solche Zusammenfassung aber meist die Fähigkeit des Darstellers oder Lesers übersteigt, so hat man gewöhnlich die einzelnen Gebiete in besonderen Darstellungen behandelt, und wir unterscheiden Staats-, Rechts-, Kirchen-, Kunst-, Literatur-, Handelsgeschichte usw. Bin Zweig derselben ist auch die Geschichte der Philosophie. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat man auf die Kenntnis der Kulturentwicklung immer mehr Gewicht gelegt, und zuerst haben Voltaire ( 1778) und Herder ( 1803) auf die gesonderte Darstellung derselben hingewiesen. Neben der Kulturgeschichte hat die individualistische (politische) Geschichte ihr volles Recht, und beide Zweige der Geschichtswissenschaft haben sich im 19. Jahrhundert kräftig entwickelt. Die Aufgabe der Geschichtsforschung besteht darin, sowohl die allgemeinen Bedingungen des Lebens und Handelns der Menschheit, als auch die besonderen Bedingungen eines jeden einzelnen Zeitraums und jeder einzelnen Kulturstufe bis zu den individuellen Faktoren des einzelnen Menschenlebens festzustellen. Andere Wissenschaften, wie die Mathematik, die Naturwissenschaft, die Philosophie, suchen in den Erscheinungen das Gleichbleibende, das Gesetz, und beschäftigen sich nicht mit dem Einzelnen. Sie verfahren also generalisierend. Die Geschichte ist individualisierende Kulturwissenschaft und beschäftigt sich gerade mit dem einzelnen Menschen und dem einzelnen Ereignis, wie sie gegeben sind, und jeder Historiker behandelt sein Objekt stets individualisierend, es als ein einmal zu bestimmter Zeit und an bestimmter Stelle Gegebenes betrachtend. Und für die Geschichte kommen auch neben den allgemeinen kausalen Faktoren des Geschehens der Zufall und der freie Wille mit in Betracht, die in der[232] Geschichte neue Kausalreihen beginnen und herbeiführen, die wieder ihrerseits andere Kausalreihen als Gegenwirkung hervorrufen. Auf dem Zusammenwirken dieser Faktoren beruht die Wirklichkeit des Daseins mit ihrer großen Mannigfaltigkeit, und sie hat der Historiker darzulegen und bezüglich seiner Werte für die Kultur zu bestimmen, indem er das einzelne Geschehen im Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen und mit der gleichzeitigen Umwelt betrachtet. – Die Philosophie der Geschichte untersucht das Wesen der Geschichte im Unterschied von der Natur, stellt die Gesetze ihres Ursprungs und ihrer Entwicklung auf und hebt die Ideen hervor, von welchen bedeutende Individuen, ganze Perioden und Völker geleitet worden sind. Sie geht von der Universalgeschichte aus, sucht die Prinzipien des geschichtlichen Lebens auf und begründet eine Logik der Geschichtswissenschaft. Sie darf nicht dazu führen, die Geschichte zu konstruieren, wie das Hegel getan hat, besteht aber doch zu Recht, soweit es Allgemeines in der Geschichte gibt. Vgl. Herder, Ideen z. Philos. d. Gesch. d. Menschh. 1784 ff. Lessing, Erziehung d. Menschengeschl. 1781. Schiller, Was heißt u. zu welchem Ende stud. man Universalgesch.? 1784. Kant, Ideen zu einer allgem. Gesch. in weltbürgerl. Absicht 1784. Hegel, Phänomenol. 1832. Lotze, Mikrokosmos 3. Aufl. 1882. Jhering, Geist des römischen Rechts. 5. Aufl. Leipzig 1878-91. Niebuhr, Römische Geschichte. Berlin 1811-1832. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Heidelberg 1815-1831. J. G. Droysen, Grundriß der Historik. 3. Aufl. 1862. K. Lamprecht, die kulturhistorische Methode. 1900. H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 1892. H. Rickert, Geschichtsphilosophie. Heidelberg 1904. G. Simmel, die Probleme der Geschichtsphilosophie. 1899. Windelband, Naturwissenschaft und Geschichte. 1894. Vgl. Völkerpsychologie.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 230-233.
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