Geschichte

[199] Geschichte, Historie, ist in allgemeinster Bedeutung Erzählung von Begebenheiten, die als geschehene vorgetragen werden. Von der Geschichte im engern Sinne aber verlangt man, daß die in ihr erzählten Begebenheiten nicht blos scheinbar, sondern wirklich geschehene sind, und da nur das Bedeutende und Wichtige des Aufbewahrens werth ist, so verlangt man ferner, daß nur dieses in die Geschichte, aber auch mit möglichst größter Vollständigkeit, aufgenommen werde. Dadurch, daß der Geschichtschreiber in jeder der beiden angegebenen Beziehungen wissen muß, was historisch sei, wird die Geschichte selbst zum Gegenstande einer Wissenschaft, der Geschichtsforschung. Der, welcher Geschichte schreibt, muß aber außer der angegebenen Wissenschaft auch noch die Kunst besitzen, das als historisch Erforschte auf eine dem Zwecke entsprechende Weise in möglichster Vollendung schriftlich vorzutragen; er muß im Besitz der Geschichtschreibekunst sein. Die Geschichte hat, wie angegeben wurde, das Geschehene zum Gegenstande, man übersieht aber leicht, daß es wesentlich verschiedene Arten des Geschehens, d.h. der zeitlichen Veränderung gebe. Betrachten wir z.B. die Pflanze, so können wir von dem Augenblicke, wo sie als Samenkorn in den Schoos der Erde gelegt wird, bis zu dem Augenblick, wo sie abstirbt, einen bestimmten Gang ihrer zeitlichen Veränderung erkennen, welcher das Eigenthümliche hat, daß er bei jeder Pflanze, insbesondere bei jeder Pflanze derselben Gattung, sich wiederholt; es ist der Gang, welchen die Entwickelung der Pflanze nimmt. Alles Natürliche hat einen ähnlichen Gang seines Entstehens, seiner Herausbildung und endlich seines Vergehens, welcher als ein von dessen wesentlicher Beschaffenheit abhängiges Gesetz erscheint. Sogar die zufälligen Ereignisse, welche das Natürliche in seinem Bildungsgange treffen, es fördern oder hemmen oder verderben, wirken doch nach bestimmten Gesetzen, welche zu erkunden die Sache des Naturforschers ist. Auch der Mensch hat von seiner Geburt bis zum Tode einen ähnlichen Gang der Entwickelung, als zeitliches und zugleich natürliches Wesen. Neben dem natürlichen Dasein, welches den Naturgesetzen unterworfen ist, besitzt der Mensch aber, und zwar von allen Wesen allein nur der Mensch, ein höheres, den Naturgesetzen nicht mehr unterworfenes, ein geistiges Dasein. Dieses geistige Dasein verändert sich auch, aber nicht nach unveränderlichen Gesetzen, welche sich einförmig an jedem Individuum wiederholen. Der natürliche Mensch wird noch jetzt geboren, wächst, zeugt seines Gleichen und stirbt endlich, wie es vor Jahrhunderten schon geschah. Der geistige Mensch dagegen ist jetzt ein völlig anderer, als vor Jahrhunderten, ja jeder einzelne Mensch erlebt in seinem geistigen Dasein Veränderungen, welche von keinem nothwendigen Gesetze abhängen die nur ihm, dem bestimmten Einzelnen, eigenthümlich sind. Der natürliche Mensch wird bestimmt durch die Naturgesetze, der geistige Mensch bestimmt sich selbst, er hat Willen, er ist frei. Die Äußerung [199] des Willens und der Freiheit ist die That, und es gibt daher neben der Geschichte des natürlichen Daseins, welche Gegenstand der Naturwissenschaft ist, eine Geschichte der Thaten der Menschen, welche das Merkmal der Freiheit hat, wie jene das Merkmal der Nothwendigkeit. Nur diese Geschichte der Thaten des Menschen wird vorzugsweise Geschichte genannt, und daher ist der Mensch das einzige zeitliche Wesen, welches Geschichte hat, sowie er das einzige geistige, freie, wollende Wesen ist.

Es ist das Eigenthümliche des Geistes, daß er seinem Wesen nach nur Einer ist (s. Geist) und doch eine Mehrzahl von Erscheinungsweisen hat, in denen er in verschiedener äußerlicher Ausbreitung auftritt; man spricht ebenso mit Recht vom Geist des Individuums, der Familie, des Volkes, wie vom Geiste des ganzen Menschengeschlechts; und je nachdem man die eine oder die andere dieser Erscheinungsweisen des Geistes auffaßt, hat man Geschichte des einzelnen Individuums, Familiengeschichte, Volksgeschichte und Geschichte des Menschengeschlechts oder Universalgeschichte. Am großartigsten und erhabensten tritt offenbar die zeitliche Gestaltung des Geistes, wie er sich durch That und Willen offenbart, in der Universalgeschichte auf. Man kann aber ferner auch den Geist auf einzelnen Gebieten seines Daseins betrachten, und so erhält man Geschichte der Religion, der Kunst, der Wissenschaft, welche man zusammen als Culturgeschichte begreift, indem es sich in diesen Gebieten sämmtlich um innere Thaten des Bewußtseins handelt, nicht um äußerliche Thaten, welche in der Weltgeschichte, oder specieller der politischen Geschichte, vorgetragen werden.

Betrachten wir näher die Aufgabe der Geschichtsforschung, so zerfällt dieselbe in eine dreifache. Zunächst ist zusammenzutragen, was aus vergangenen Zeiten überliefert worden, dann ist Dasjenige auszusondern, was wirklich geschehen ist, d.h. die Wahrheit und Richtigkeit des Überlieferten zu prüfen, und endlich ist von dem als richtig Befundenen wiederum nur Das als historisch auszusprechen, was wahrhaft bedeutend ist, d.h. was wirklich eine That des in seiner Lebendigkeit darzustellenden Geistes ist. Um nun auf würdige Weise das Geschäft der Geschichtsforschung zu führen und jeder der drei Aufgaben Genüge zu leisten, muß, wie man alsbald einsieht, der Geschichtsforscher verschiedene Kenntnisse und Wissenschaften besitzen, ehe er an seine große Aufgabe geht. Schon die Quellen der Geschichte sind höchst mannichfaltig, und um sie nur erst auffinden und benutzen zu können, sind eine Menge von Vorkenntnissen erfoderlich. Nicht nur ältere Geschichtsbücher und andere schriftliche Werke müssen durchstudirt werden, welches ausgebreitete und genaue Sprachkenntniß erfodert, sondern auch die Überreste vergangener Zeiten, welche von dem geistigen Leben in denselben Kunde geben und zum Theil an historische Thatsachen erinnern: Denkmale (s.d.), Münzen (Numismatik, s. d.), Wappen (Heraldik, s. d.), Inschriften (s.d.), Alterthümer (s.d.). Höchst wichtig ist die Kenntniß der Urkunden und der Regeln, nach denen die Echtheit derselben zu prüfen (Diplomatik, s. Diplom). Das Studium der Werke aus frühern Zeiten wird stets nutzlos bleiben, wenn man nicht die Kenntniß von den verschiedenen Zeitrechnungen besitzt, deren sich frühere Völker und ihre Schriftsteller bedient haben, und welche in der Chronologie (s. Zeitkunde) gelehrt werden. Als eine der wichtigsten historischen Hülfswissenschaften ist noch die Geographie (s.d.) zu erwähnen, und zwar namentlich die politische Geographie der verschiedenen Jahrhunderte, denn erst diese verschafft einen Überblick über den Schauplatz, auf welchem sich die Thaten der Vergangenheit ereignet haben. Um die Culturgeschichte und die Geschichte der einzelnen Wissenschaften zu erforschen, ist überdies noch eine genaue Kenntniß der Wissenschaft und Kunst, sowie der Religion nöthig, woran sich die der Mythologie (s.d.) anschließt. Man sieht, wie der Geschichtsforscher eine Menge von Vorkenntnissen besitzen muß, die nur sehr selten bei Einem Menschen vereinigt zu sein pflegen. Und dennoch befähigen alle diese Vorkenntnisse noch nicht zum ausgezeichneten Geschichtsforscher, dieser muß noch das angeborene Talent besitzen, das wahrhaft Bedeutende, auch wenn es scheinbar noch so unbedeutend und verborgen wäre, mit seinem Takte herauszufinden; das minder Bedeutende, wie breit es sich auch machen möge, in seiner Nichtigkeit zu erkennen, und endlich alle vereinzelten Glieder gleichsam und alle einzelnen Lebensregungen als harmonisches, wohl sich zusammenfügendes Ganzes überschauen.

Der ausgezeichnete Geschichtschreiber wird stets derjenige sein, welcher in einfacher, ungesuchter Sprache, ohne Parteilichkeit und Vorurtheil, die Thaten der Vergangenheit nach ihrem äußern und innern Zusammenhange darstellt. Dieses Geschäft wird aber dadurch schwierig, daß Vieles zugleich geschieht, aber nicht zugleich beschrieben werden kann, und daß Manches im innigsten Zusammenhange steht, was durch Zeit und Örtlichkeit getrennt ist. Im Allgemeinen pflegt man die Geschichte je nach den großartigen Entwickelungsstufen, die in der darzustellenden Erscheinung des Geistes zu unterscheiden sind, in Perioden (größere Zeitabschnitte) zu zerlegen, und jede dieser Perioden für sich zu behandeln. Hat man nun einzelne Völker und Reiche historisch zu behandeln, so schließen sich die gleichzeitigen Ereignisse näher aneinander und man wird zweckmäßig eine Darstellung wählen (die chronologische oder annalistische), welche ohne Sprünge und Unterbrechung denselben Gang wie die darzustellende Zeit von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert nimmt. In der Weltgeschichte würde eine derartige Darstellung zu vielen Verwechselungen Veranlassung geben und nichts weniger als übersichtlich sein. Man pflegt daher hier in den einzelnen Perioden die verschiedenen Völker besonders zu betrachten und wo sie in Berührung treten und etwa am Schluß der einzelnen Perioden auf den geistigen Zusammenhang der verschiedenen Völker einzugehen. Diese Darstellungsweise ist die ethnographische. Für Tabellen empfiehlt sich die synchronistische Methode, nach der das Gleichzeitige in chronologischer Folge vorgetragen wird. Eine Geschichte endlich, welche auf den innern Zusammenhang der Begebenheiten eingeht und diese nach ihrem Verhältnisse von Ursache zu Wirkung darstellt, wird pragmatisch genannt.

Sehr mislich ist derjenige Standpunkt, welcher in der Geschichte eine Lehrerin der Moral sucht. Leider ist derselbe häufig beim Schulunterricht in der Geschichte gewählt worden. So gewiß es ist, daß ein weiser, mächtiger und gerechter Gott die Schicksale der Völker wie der Einzelnen lenkt und daß darum die Geschichte selbst eine Offenbarung der göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit enthält, so ist doch, [200] diese Offenbarung mit menschlich beschränktem Verstande nachweisen zu wollen, ein Unternehmen, welches stets eher zur Gotteslästerung als zur wahren Frömmigkeit führen wird, um so mehr, je entfernter der menschliche Geist in seiner Entwickelung von dem ewig vollkommenen göttlichen Geiste steht. Der tiefsinnigste Philosoph kennt am genauesten die Kraft, aber auch die Schwäche des menschlichen Geistes, er weiß sich daher auch da zu bescheiden, wo er nicht durchzudringen vermag; aber der ungebildete Mensch, welcher sich übernimmt, den Gott in der Weltgeschichte sehen zu wollen, wird, weil er nicht seinen eignen kleinen Geist, von dem er allein eine (noch dazu sehr mangelhafte) Vorstellung hat, in derselben findet, an der Gegenwart des Geistes, überhaupt an Gott zu verzweifeln in Gefahr gerathen. Höchst verwerflich ist es endlich, ein Urtheil über die moralische Würde der Menschen, welche als bedeutend in der Geschichte auftreten, zu fällen. Solches Urtheil kommt dem Menschen nicht zu, der nicht in der Brust eines andern Menschen zu lesen vermag, während doch, was in dieser vorgeht, allein den moralischen Werth oder Unwerth bestimmt, und muß daher allein Dem überlassen bleiben, dem das Innere des Menschen durchsichtiger als diesem selbst ist.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 199-201.
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199 | 200 | 201
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