Leben

[709] Leben ist das thätige Dasein, welches vorzugsweise dem Geiste eigenthümlich ist und an dem Nichtgeistigen, dem Körperlichen, nur als ihm vom Geiste mitgetheilte Bewegung auftritt. Dem Leben entgegengesetzt ist der Tod, der Zustand der thatlosen Ruhe. Alles Körperliche wird vom Geiste beherrscht und bewegt, aber der Grad, in welchem sich dieser in jenem bezeugt, ist ein mannichfach verschiedener und demgemäß gibt es auch verschiedene Arten des Lebens. In der anorganischen Natur ist die geringste Bewegung, das schwächste Leben und man stellt sie daher häufig der organischen Natur, der lebendigen, als die todte Natur [709] entgegen, doch insofern mit Unrecht, als auch in ihr Lebensregungen sich zeigen. Auch in der anorganischen Natur nämlich zeigt sich eine Bewegung, welche bezeugt, daß ihr ein innerliches, geistiges Princip einwohnt, denn die Veränderungen, welche in jener vorgehen, sind durch die ewigen Naturgesetze bestimmt, welche längst als Äußerungen der höchsten Vernunft anerkannt sind. Das Leben ist hier nur verhüllter als in der organischen Natur. In dieser nimmt die niedrigste Stufe des Lebens die Pflanze ein, denn ihre Bewegung, welche zwar offenbar als Selbstbestimmung eines geistigen Princips auftritt, erscheint noch gesetzmäßig bestimmt, d.h. in einer allgemeinen, nicht von dem einzelnen Individuum abhängigen Bestimmtheit, wie dieses beim Thiere der Fall ist. Hier ist das Leben, durch eine Menge von mittlern Stufen sich entwickelnd, die willkürliche Bestimmung des Individuums, aber dieses gehorcht seinen Trieben und seinem Instincte, seine willkürliche Bewegung bestimmt sich selbst auf eine natürliche, d.h. bewußtlose Weise. Erst im Menschen wird der Geist sich seiner selbst bewußt. Allerdings ist das Leben des Menschen zunächst thierisch, aber es ist zugleich die Möglichkeit vorhanden, sich über die Thierheit zu erheben, und dies geschieht im Aufgeben der Willkür. Indem der Mensch die natürliche Bestimmtheit seiner das Leben bezeugenden Bewegungen überwindet und sich auch gegen dieselben nach Zwecken bestimmt, welche über die Natürlichkeit (Befriedigung der Triebe) hinausgehen, gelangt er zur Freiheit, welche die des Geistes würdige Lebensstufe ist. Jede höhere Stufe des Lebens pflegt alle niedern in sich zu vereinigen, sodaß der Mensch z.B. ebensowol an dem durch Naturgesetze bestimmten niedern Dasein der anorganischen Welt und dem höhern der Pflanze, als an dem in seiner Willkür durch Triebe und Instinct des Thiers und dem zeitgemäßen Dasein in der Freiheit des selbstbewußten Geistes Theil hat. Alles Lebendige ist sterblich; dieser alte Erfahrungssatz spricht nichts Anderes aus, als daß in der Natur die niedern Lebensstufen über die höhern endlich den Sieg davontragen. Indem das organische Geschöpf stirbt, verfällt es den Naturgesetzen, welche es als ein Anorganisches beherrschen. So lange das Geschöpf lebt, widersteht es mit seinem höhern Lebensdasein den Naturgesetzen, die materiellen Bestandtheile desselben erhalten sich durch jene Kraft des Widerstandes gegeneinander, sodaß sie nicht die durch die Naturgesetze bestimmten Einwirkungen aufeinander ausüben, welche alsbald mit dem Sterben eintreten und in der Verwesung als Übergang organischer Natur in anorganische sich darstellen. Der Tod des organischen Wesens erscheint auf diese Weise auch noch als ein Lebensproceß, als Bewegung, nämlich als der des anorganischen Körpers. Hieraus folgt dann weiter, daß auch in der Natur der Tod keine Wahrheit hat, sondern ein bloßer Schein ist, daß die Natur durchaus lebendig ist. In noch höherm Sinne gilt dies aber vom Geiste. Allerdings scheint dem organischen Wesen das Leben und damit der Geist auszugehen, aber der Mensch, welcher sich durch Religion und Sittlichkeit zum Standpunkte der Freiheit erhebt, gelangt zur Erkenntniß, daß der Geist in der Gewißheit seiner selbst über die Zeitlichkeit und damit auch über den Schein des Todes sich erhebt, welchem der Körper verfallen ist. (Vgl. Unsterblichkeit.)

Unter dem Leben eines Menschen versteht man gewöhnlich den Verlauf seines geistigen Daseins in dem Scheine der Zeitlichkeit. Dieses (zeitliche) Leben des einzelnen Menschen steht in innigem Zusammenhange mit dem gleichzeitigen Dasein seines Volkes, ja des ganzen Menschengeschlechts, und ist daher namentlich bei Menschen, welche von Einfluß auf die Gestaltung allgemeiner menschlicher Verhältnisse wesen sind, von historischer Bedeutung. Aus diesem Grunde gewähren die Lebensbeschreibungen oder Biographien ausgezeichneter Menschen ein großes Interesse. Die höchste Aufgabe des Lebensbeschreibers, Biographen eines großen Mannes ist die, einerseits dessen eignen geistigen Entwickelungsgang aus der Zeit, in welcher er lebte, und zugleich andererseits umgekehrt aus des Mannes Individualität die Zeit, welcher er angehörte und auf welche er wirkte, zu begreifen.

Die Lebensdauer des Menschen hängt von den mannichfaltigsten Umständen, von der körperlichen Beschaffenheit des Individuums, seiner Lebensweise, seinen Lebensverhältnissen und selbst von Zufälligkeiten ab. Indeß kann man doch im Durchschnitt annehmen, daß der Mensch ein Alter von 50–60 Jahren erreicht. Kürzer ist die Zeit, während welcher der Mensch als selbstthätiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft angesehen werden kann, und man rechnet in dieser Beziehung ein Lebensalter gewöhnlich zu 30 Jahren. Aus Vergleichung der Sterbelisten hat man vielfach Berechnungen über die muthmaßliche Lebensdauer von Menschen gewissen Geschlechts, gewisser Lebensart u.s.w. angestellt, sowie darüber, wie viele Jahre der Mensch von gewissem Alter muthmaßlich noch zu leben habe. Wahrscheinliche Lebensdauer nennt man gewöhnlich die Zeit, in welcher die Hälfte einer gewissen Anzahl von Menschen gleichen Alters wahrscheinlich gestorben sein wird. Man hat in dieser Beziehung für ein Alter von 5, 15, 30, 40, 50, 60, 70, 80 Jahren folgende wahrscheinliche Lebensdauer berechnet: 46, 40, 29, 23, 16, 11, 7, 5. Auf diese Berechnungen nimmt man besonders bei Abschließung von Verträgen Rücksicht, welche mit dem Tode eines Menschen ihre Erledigung oder Erfüllung finden, z.B. bei Leibrenten, Witweninstituten, Lebensversicherungsanstalten u.s.w. Das menschliche Leben kann nur durch sorgfältige Pflege der Gesundheit, Vermeidung aufreibender Leidenschaften, Regelmäßigkeit in Genüssen aller Art u.s.w. verlängert werden, sodaß durch jene Mittel der Mensch ein höheres Alter erreichen kann, als er wahrscheinlich erreicht haben würde, wenn er sich derselben nicht bedient hätte. Es ist daher ein sehr dankenswerthes und nützliches Unternehmen gewesen, wenn Ärzte wie Hufeland (s.d.) allgemeine Anweisungen zur Pflege des Lebens oder zur Lebensverlängerungskunst (griech. Makrobiotik) gegeben haben.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 709-710.
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