Leidenschaft

[722] Leidenschaft nennt man eine nicht schnell vorübergehende, sondern anhaltende Aufregung des Gemüths, durch welche der Mensch des freien Gebrauchs seiner geistigen Kräfte beraubt wird. Zu Grunde liegt jeder Leidenschaft eine Neigung, welcher sich der Mensch mit Aufgebung jedes andern Interesses hingibt, und wenn ihm dieses Hingeben zur Gewohnheit geworden ist, so hat er damit die Kraft eingebüßt, Herr seiner Leidenschaft zu sein, und er muß dieser gehorchen, selbst wenn ihm aus der Erfahrung klar wird, daß er dadurch sich und Andere unglücklich macht. Hieraus ist der Name Leidenschaft entstanden, denn die Thätigkeit eines in einer Leidenschaft befangenen Menschen ist nicht eine Äußerung seines freien Willens, sondern der leidenschaftliche Mensch handelt nur als Knecht, als Werkzeug, verhält sich also in Wahrheit leidend. Nichtsdestoweniger ist der Mensch wegen jeder von ihm in der Leidenschaft begangenen Handlung verantwortlich; denn, schon indem sich derselbe der Leidenschaft hingibt, verletzt er seine ihm als freiem Wesen zukommende Würde, er sündigt. Sehr häufig wird Leidenschaft mit Begeisterung (s.d.) verwechselt, und man spricht in diesem Sinne von edlen Leidenschaften, worunter man jene Aufregung der geistigen Kräfte versteht, welche zu Erreichung eines erhabenen Zweckes nöthig ist, den der gemeine Mensch nicht zu begreifen, noch weniger zu erreichen vermag. Auch mit Affect (s.d.) pflegt Leidenschaft verwechselt zu werden, da doch der Affect nur vorübergehend, die Leidenschaft anhaltend ist.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 722.
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