Leidenschaft

[320] Leidenschaft. Schon das Wort selbst sagt es: das sich leidend Verhalten gegen die Gewalt der Sinnlichkeit zeitweise Hemmung oder Unterdrückung des höheren Erkenntnißvermögens durch das Begehrungsvermögen, d. h. der Vernunft durch den Willen: geschwächte Urtheilskraft gegenüber dem Sinnenreize. Demnach heißt Leidenschaft im Allgemeinen jene moralische Krankheit, in der das unserer Bestimmung zukommende Gleichgewicht der Seelenkräfte gestört ist, ein geistiges Fieber. Man spricht auch von einer edlen, erhabenen Leidenschaft, versteht darunter aber nichts als die Begeisterung, den Enthusiasmus (s. d.). Leidenschaft im eigentlichen Sinne kann Großes zur Folge haben und Gutes; aber diese Folge ist immer nur eine zufällige, keine moralisch bedingte, wie denn auch aus vulkanischem Boden Oliven keimen und Reben. Jeder Seelenzustand, worin die geistige Freithätigkeit gehemmt wird, ist des Menschen unwürdig, wie es seine Pflicht ist, bei jeder Handlung seine Gesammtverhältnisse zu Gott, zu sich, zur Gesellschaft, zur geistigen und körperlichen Natur so zu[320] achten, daß keines derselben verletzt werde in seinem unumstößlichen Rechte; recht aber kann immer nur das sein, was dem Gleichgewichte des geselligen Lebens nicht schadet. Der Leidenschaftliche reißt sich aus der ihm vorgezeichneten Bahn und tritt in die des Andern und hemmt ihn. Gott ist der Unveränderliche, das böse Princip ist Unruhe; Weisheit ist vollendete Ordnung, Leidenschaft Zerfallenheit. Je sinnlicher wir handeln, desto leichter findet das böse Princip Eingang in uns, das, ein Mal zur Obergewalt gelangt, seine Tyrannei nur mit der Zerstörung Alles dessen endet, was wir aus dem Jenseits überkommen haben und in die Ewigkeit übertragen sollen. – Schmal ist die Grenze zwischen Tugend und Leidenschaft, wie der fortgesetzte Kampf gegen die Sinnlichkeit, die sich der Kraft anzukämpfen begibt, schwer ist und leicht zu übertreten; so werden, bleiben sie unbewacht, die edelsten Regungen des Gemüthes zu den verderblichsten: das Ehrgefühl zur Ehrsucht, Selbsterhaltung zum Hasse und Neide, Rechtsgefühl zum Zorne, Wehmuth zum Grame u. s. f., ja selbst die himmlische Liebe zum thierischen Instinkte und die gottgeschenkte Religion zum vernichtenden Fanatismus. Keine Tugend bleibt vom Bösen unbewacht, unangefochten; es lauert den Augenblick auf Gelegenheit, nur des schwächsten Fadens habhaft zu werden, um ihn nach und nach zum Netze zu bilden für sein Opfer. Dieß der Grund unserer innigen Theilnahme an tragischen Katastrophen; weil wir nämlich sehen, wie das, was wir Verhängniß nennen, selbst im edelsten Charakter oft durch eine leise Schwäche, die sich allmälig zur Leidenschaft steigert, fußen kann, und wir uns sagen müssen: »Dieß traf einen Menschen; ich bin ein Mensch, es kann auch mich treffen.« – Beide Geschlechter theilen sich in alles Edle und Schöne, wie in alle Schwächen, die unsere Natur ausmachen; aber die verschiedene Lebensweise modificirt die Neigungen. Anders nur, nicht andere Leidenschaften als der Mann fühlt das Weib. Wie das Nervenfieber die stärkeren Naturen leichter zerstört, so tritt auch die[321] Leidenschaft im stärkeren Geschlechte zerstörender auf. Im Ganzen läßt sich sagen: die Leidenschaft wirkt bei dem immer nach Außen strebenden Manne – mehr nach Außen; beim Weibe, das ein beschauliches, ein Seelenstilleben führt, mehr nach Innen; der Mann vernichtet durch Leidenschaft das öffentliche, das Weib das innere Recht.

B– l.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 320-322.
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