Religion

[389] Religion. Ein Himmelslicht ist sie und ein Stern der Weisheit aus den heiligen Höhen. Herabstrahlt sie wie ein sanfter Mond auf die irdischen Leidensnächte, und mild wie eine aufgehende Maiensonne scheint sie über den Freuden des Lebens. Den größten und erhabensten Gedanken leitet sie in das weiche und zarte Gemüth, das lebt, weil es liebt, und liebt, weil es glaubt. Den Auen nahen Gott bringt sie in das Heiligthum des Herzens, und bereitet ihm, dem Allweisen, dem Allliebenden seine unentweihten Raume zur seligen Wohnung. Und das eigene Leben wird von dem göttlichen Geiste durchdrungen und von seinem Hauche erwärmt und begeistert. Die Liebe des Unendlichen strahlt wieder in der Liebe zu nahen und fernen Herzen und verbindet sie mit Gott und der Menschheit. Denn die Religion verdeckt deßhalb die Erde nicht weil sie den Himmel öffnet. Wie sie für die Ewigkeit bildet und erzieht, so auch drängt und treibt sie in die täglichen Verhältnisse hinein. Jede Blume läßt sie hervorschimmern aus dem Strauße der Pflichten. Jeder Zweig grünt unverwelklich durch sie an dem Kranze der Tugend. Allen, allen ertheilt sie Rath und Trost. Wo sie fehlt, da wird es leer und finster. Wo sie naht, da wird es hell und belebt. Sanfte Gefühle und edle Grundsätze, hohe Gesinnungen und große Thaten ruft sie in's Dasein. Zu jenen gibt sie die Anregung, zu diesen die Kraft und den Entschluß. Wo glänzte auch ohne sie die Jungfrau im Strahlenschmucke der Sittenreinheit? Wo übte auch ohne sie die Gattin unermüdet schwere und vielfache Pflichten im Kreise der Ihrigen: Wo stärkte sich ohne ihre Labung die geprüfte Dulderin[389] bei den Schlägen des Schicksals? Wo anders als in ihr ahnete der erhobene Blick die überirdischen Blüthen der Zukunft? – Und was die Religion einem Herzen gewährt, das gewährt sie Millionen. Und wie diese sich an ihren paradiesischen Strömen erholen, so kühlt sich die einzelne Seele an den Tropfen ihres Lichtthanes. Und wenn vorübergeht die Erscheinung der Gegenwart und hinüberwankt der Schatten des Erdentraums, so glänzt sie ein Verheißungsstern am Morgenhimmel über der niedergesunkenen Abendsonne des Lebens.

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Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 389-390.
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