Geist

[353] Geist. Die neueste Philosophie unterscheidet scharf Seele und Geist. Seele ist dasjenige Vermögen in uns, das denkt, empfindet und will, und sonach das Erkenntniß-, Empfindungs- und Begehrungsvermögen umfaßt. Dieser kommen also Anschauung, Einbildungskraft, Gedächtniß, Erinnerung, Verstand und Reflexion zu. Seele und Vernunft sind im Menschen Eins. Geist ist jene besondere, eigenthümliche Kraft, die, gewisser Maßen noch über der Vernunft stehend, die Gesetze derselben in einen Brennpunkt bringt und jedes Mal auf einen vorkommenden Fall rasch anwendet; daher nennt man einen geistreichen Menschen, der das bloß Vernünftige bei dieser oder jener Gelegenheit auf eine überraschend eigenthümliche, wiewohl ganz wahre Art vorträgt oder behandelt: geistreich ist der Einfall, der neben der bekannten Wahrheit eine unbekannte plötzlich entwickelt, die oft auf geheimnißvolle Weise mit jener zusammenfließt. Geist ist Erfindungsgabe, somit gleichbedeutend mit Genie, Genius, und kommt darum nicht allen Menschen nothwendig zu. Man sagt auch: der Geist dieser oder jener Malerschule, der Geist in J. Paul's Werken, Schiller's Geist oder Genius, ganz in derselben Bedeutung. Ausflüsse des Geistes sind: Witz, Scharfsinn und Tiefsinn. – Der weibliche Geist äußert sich, da ihn, wie den männlichen, die Gesetze der Vernunft, d. i. der Gesammtheit aller Seelenvermögen, bedingen, natürlich anders als der männliche, eben weil die Seelenvermögen des Weibes zum Theil anders wirken. Wir sind keine absolute, d. i., unabhängige Vernunftwesen;[353] wie die Vernunft oder die Seele durch den Leib, so wird der Geist durch die Gesetze der Vernunft bedingt. Dieß angenommen, bedingt auch der Leib den Geist, und in der That hindert und fördert Gesundheit oder Krankheit. Da nun der weibliche Leib, seiner holden Bestimmung zu Folge, zarter, empfänglicher, weicher als der männliche, so muß sich auch der weibliche Geist hiernach zarter, seiner, elastischer entwickeln. Und es ist so. Geistreiche Frauen (die, im Vorbeigehen gesagt, zahlreicher sind als geistreiche Männer, vielleicht eben durch den so reizbaren Körper), überraschen, glänzen, finden und enthüllen die feinsten Abschattungen, bewegen sich in elfenleichten Schwingungen über alle Anstöße des Nachdenkens, ziehen aus jedem Gedanken eine gefällige Pointe, knüpfen an diese einen neuen schönen Gedanken, und schlingen so eine Ideenrosenkette um jeden Gegenstand, der sie einmal angeregt; wogegen der geistreiche Mann mehr durch seine Scharfe verwundet und vernichtet, donnert und wetterleuchtet und Riesenbauten aufführt über den Trümmern der durch ihn zerstörten Gewöhnlichkeit.

B–I.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 4. [o.O.] 1835, S. 353-354.
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