Erinnerung

[478] Erinnerung. Eine der schönsten, dankenswerthesten der Kräfte des Geistes, eine lautere, unversiegbare Quelle reinster Freuden ist die Erinnerung. Wenn der Fittich der schaffenden Phantasie im freien Fluge die Seele zu den leuchtenden Gebilden der Ferne erhebt, trägt die sanfte Schwinge der Erinnerung in die Thäler der Vergangenheit zurück, noch einmal den Kelch des Augenblicks reichend, den flammenden der Freude, wie den bittern des Schmerzes. Wie arm wären wir ohne die Erinnerung, wie trostlos und freudenleer die Pilgerschaft durch das Leben ohne das freundliche Asyl, in dessen kühlem Schatten sich der Geist so gern ergeht, wo der Himmel klarer sich wölbt in des Friedens blauer, unvergänglicher Heiterkeit! Lieblich duften die Blumen entschwundener Freuden, unverwelkt in die Gegenwart herüber, und selbst die Thränen, die wir einst dem Schmerze geweint, sie schimmern zu Perlen licht verklärt, und unter ihrem mildem Thau wuchert das Immergrün des sanften Trostes! Dieß sind die Genüsse, welche der Genius der Erinnerung, beruhigend, verklärend, dem Geiste bietet, Genüsse, auch wenn seine Kerze die dunkelsten Nachtgestalten früherer Tage bescheint! Noch aus ersterbender Augenhöhle schweift der Blick erinnerungstrunken nach den bunten Sternen verblichener Paradiese, noch spät sonnt sich im Glanze früher, schöner Träume die Seele und bewahrt dankbar in ihren heiligsten Tiefen des irdischen Daseins himmlische Momente !

T.

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Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 478-479.
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