Gemüth

[179] Gemüth bezeichnet das gesammte geistige Dasein des Menschen auf seiner ersten Entwickelungsstufe, sodaß der ungebildete Mensch ebenso sehr wie der Gebildete mit Gemüth begabt ist, ja oft mehr als dieser, weil die Bildung oft einseitig ist und in diesem Falle die Unbefangenheit des Geistes verloren geht, welche dem ungebildeten, aber unverdorbenen Menschen eigen ist. Das Verhältniß des Geistes gegen den Körper drückt sich in der Erregbarkeit des Gemüths durch Sinneneindrücke aus, welche sich zunächst in den Empfindungen und Gefühlen (s.d.) äußert. Der tüchtige Mensch wird weder an krankhafter Verzärtelung und Empfindlichkeit noch an Verhärtung des Gemüths leiden, er steht gleich fern von weichlicher Gutmüthigkeit, wie von Hartherzigkeit. Jene ist Folge einer zu leichten Erregbarkeit, diese einer zu schweren, und beide können zur moralischen Schlechtigkeit ausarten. Das Gemüth aber erregt sich auch selbst und wirkt auf den Körper zurück in den Affecten (s.d.) und Leidenschaften (s.d.). Die Leidenschaften machen den Geist der Sinnlichkeit unterthan und bringen den Menschen, sobald sie sich seiner dauernd bemächtigen, zum Laster (s.d.) und unter das Thier herab. Ein solcher Mensch wird auch stets ein verdorbenes Gemüth haben. Aber die verschiedenen Laster wirken verschieden auf das Gemüth; der Geiz macht hartherzig, er ertödtet das Gemüth; die Wollust macht das Gemüth weichlich, schlaff und zugleich unrein; die Trunksucht im Augenblicke der Aufregung höchst reizbar, nachher aber matt. Das Gemüth hat bei den meisten Menschen eine durch frühere Schicksale herbeigeführte eigenthümliche Stimmung, sodaß es mehr zu angenehmen Empfindungen (Heiterkeit) oder mehr zu unangenehmen (Betrübtheit) geneigt ist. Jene Stimmung artet leicht in Leichtsinn, diese in Trübsinn und Muthlosigkeit aus. Schon die Alten erkannten als am glücklichsten und dem weisen Manne am würdigsten eine Gemüthsart [179] welche ebenso weit vom Leichtsinn wie vom Trübsinn entfernt ist, d.h. welche überhaupt Luft und Unlust, Freude und Schmerz gleichmäßig zu ertragen versteht.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 179-180.
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