Urkunden

[540] Urkunden im weitesten Sinne kann man alle Gegenstände nennen, welche von einem Vorgange oder einer Thatsache Kunde geben. In dieser Bedeutung gehören alle Denkmäler der menschlichen Thätigkeit, namentlich Monumente, Münzen, Wappen und Siegel, zu deren Prüfung die Diplomatik und historische Kritik Anleitung gibt, zu diesen [540] Documenten. Im engern Sinne und in der gewöhnlichen Bedeutung versteht man aber unter Urkunden schriftliche Aufsätze, die zum Nachweise irgend einer Thatsache abgefaßt sind, und von ihnen allein ist hier die Rede. Sie sind, was ihren Inhalt anbetrifft, entweder über zweiseitige Rechtsgeschäfte zur Bekräftigung und zum Beweis derselben eigens aufgenommen (Contracte), und daher, wenn sie nur sonst an keinen Mängeln leiden, volle juristische Gewißheit hervorzubringen ganz geeignet; oder sie enthalten einseitige Willensäußerungen (Testamente, Schenkungsurkunden u.s.w.), oder Eingeständnisse (Quittungen, Schuldverschreibungen), oder endlich Aussagen über die Rechtsverhältnisse dritter Personen, wie alle schriftlichen Zeugnisse und Atteste. Hinsichtlich der Form und des Ursprungs sind alle Urkunden entweder öffentliche oder Privatdocumente, Originalien oder Copien, und die letztern wieder nicht beglaubigte und beglaubigte oder vidimirte, deren Übereinstimmung mit dem Original von einer öffentlichen Glauben besitzenden Person bescheinigt ist. Öffentliche Urkunden sind solche, welche von einer mit öffentlichem Glauben bekleideten Person innerhalb ihrer amtlichen Befugnisse ordnungsmäßig abgefaßt sind. Sie heißen insbesondere gerichtliche, wenn sie vor Gericht aufgenommen sind, außerdem können aber auch Notare, Geistliche und andere Personen, denen die Gesetze diese Befugniß beilegen, öffentliche Urkunden ausstellen. Diese Documente sind entweder selbst über den Vorgang, welchen sie bewahrheiten sollen, aufgenommen, als Gerichtsacten, Protokolle, Notariatsinstrumente, öffentliche Steuer- und Lagerbücher, Kirchenbücher und jede andere wahre Archivalurkunde; oder bloße öffentliche Zeugnisse von dem Inhalte solcher Urkunden (z.B. ein Taufzeugniß aus einem Kirchenbuche) oder über andere Verhältnisse, die dem Aussteller amtlich bekannt sind (z.B. ein Zeugniß des Wohlverhaltens). Privaturkunden rühren von Privatpersonen her und sind nicht öffentlich beglaubigt. Sie erlangen erst durch gerichtliche Anerkennung von Seiten des Ausstellers Beweiskraft. Die anerkannten Urkunden können als einseitige Willensäußerungen und Bekenntnisse zwar wol gegen, nie aber für den Aussteller beweisen, wovon indeß in den meisten Ländern die Handlungsbücher eine Ausnahme machen. Öffentliche fehlerfreie Urkunden bedürfen dagegen keiner Anerkennung, sie haben volle Beweiskraft, und bis zum Beweise des Gegentheils streitet für sie die Rechtsvermuthung der Glaubwürdigkeit und Echtheit. Nur damit der Gegner Gelegenheit hat, seine Einwendungen gegen sie vorzubringen, müssen auch sie ihm zur Erklärung vorgelegt werden. Von einer eidlichen Ableugnung kann hier aber nicht die Rede sein, sondern es ist nur erlaubt, durch eine besondere Beweisführung die etwaigen Fehler der Urkunde und die daraus herzuleitende Verbindlichkeit darzuthun. Ein Urkundenfehler, welcher bald das ganze Document zu entkräften, bald nur die Beweiskraft desselben zu schwächen im Stande ist, kann entweder rücksichtlich des Inhalts oder in Betreff der Form vorhanden sein. Zu den Fehlern der erstern Art gehören: Widersprüche der Urkunde mit sich selbst oder mit andern vom Vorzeiger vorgebrachten Documenten, Undeutlichkeit, Unbestimmtheit und Irrelevanz oder Bedeutungslosigkeit in Bezug auf den zu beweisenden Gegenstand; ferner Bezugnahme auf andere Urkunden ohne den dahergehörigen Inhalt derselben anzuführen oder sie selbst in beweisender Form beizulegen; endlich das Fehlen anderer von besondern Gesetzen ausdrücklich verlangter Erfodernisse. Wider die äußere Beschaffenheit eines Documents wird verstoßen, wenn entweder die für eine bestimmte Art von Urkunden gesetzlich vorgeschriebene Form nicht beobachtet worden ist, oder wenn die Urkunde Spuren der Fälschung an sich trägt. Diese Mängel schwächen oder entkräften die Glaubwürdigkeit, je nachdem sie wesentliche oder unwesentliche Theile der Urkunde betreffen. Durch die behauptete Fälschung wird jede Anerkennung der Urkunden unnöthig, und es muß sowol bei öffentlichen als bei Privaturkunden der Beweis eines Falsums stets nachgelassen werden. Ist Derjenige, welcher zum Beweise seiner Ansprüche einer Urkunde bedarf, nicht im Besitze derselben, so lassen ihn die Gesetze in einem solchen Falle keineswegs hülflos. Stehen ihm Eigenthums- oder Miteigenthumsrechte an einer Urkunde zu, so kann er diese Rechte mit dem im Civilrechte dafür bestimmten Klagen verfolgen; außerdem besteht aber vermöge processualischer Vorschriften eine Pflicht zur Herausgabe von zur Aufklärung der Streitsache nothwendigen Urkunden, selbst wenn dem die Herausgabe Verlangenden sonst kein Recht an dem Documente zusteht. Das Gericht, bei welchem die Sache anhängig ist, muß einer Partei auf Erfodern alle, sowol Civil- als Criminalacten, welche zur Entscheidung der Sache beitragen, vorlegen. Auf gehörig geschehene Requisition sind dazu auch andere Gerichte verpflichtet, wenn sie im Besitz solcher Acten sich befinden. Der Fiscus thut das aber nur unter der Bedingung, daß davon kein Gebrauch gegen ihn oder den Staat gemacht werde. Ferner ist auch jeder Dritte zur Edition in seinen Händen befindlicher und auf die Streitsache bezüglicher Documente verpflichtet, vorausgesetzt, daß ihm selbst kein Nachtheil dadurch erwächst, und endlich ist der Kläger schuldig, dem Beklagten die zu seiner Vertheidigung durch directen Gegenbeweis (nicht zum Beweise der Einreden) nöthigen Urkunden zu ediren. Der Beklagte braucht aber in der Regel dem Kläger keine Mittel in die Hände zu geben, um die gegen ihn gerichteten Ansprüche zu beweisen, und ist nur dann zur Edition verbunden, wenn er durch Vorschützen selbständiger Einreden selbst als Kläger erscheint, und der Kläger die Urkunden zur Vertheidigung gegen diese Einreden bedarf. Übrigens kann man stets nur den Theil einer Urkunde, der im vorliegenden Falle von Bedeutung ist, einzusehen verlangen. Den Termin, in welchem die zur Beweisführung gebrauchten Urkunden vorzulegen sind, nennt man den Productionstermin. Es wird dazu der Producent bei Strafe des Verlusts dieses Beweismittels und der Product unter der Verwarnung, daß im Nichterscheinungsfälle die Documente für recognoscirt erachtet werden sollen, vorgeladen. Ist aber ein Dritter der Inhaber der Urkunden, so kann er nur unter Androhung einer Geldstrafe zur Edition aufgefodert werden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 540-541.
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