Geistlich

[170] Geistlich und geistig wird dem neuern Sprachgebrauche gemäß so unterschieden, daß jenes nur ein äußerliches, dieses ein innerliches Verhältniß zum Geiste bezeichnet. Vorzugsweise bedient man sich jedoch des Wortes geistlich in religiöser Beziehung, wo es dann oft mit kirchlich gleichbedeutend ist, so daß Alles, was zur Religion in einem äußerlichen Verhältnisse steht, geistlich genannt wird, z.B. geistliche Personen, geistliche Gerichte, geistliche Lieder, Bücher, Güter, geistliche Musik, Kleidung u. dergl. Geistig dagegen ist Alles, dem der Geist inwohnt. Manches, wie man sieht, kann geistlich sein, ohne geistig zu sein, und sehr Vieles ist geistig, ohne geistlich zu sein, z.B. alle wahre Poesie, jeder Mensch. – Geistlicher Vorbehalt wurde, ganz der Bedeutung des Wortes gemäß, ein streitiger Punkt genannt, über den die streitenden Parteien, Katholiken und Protestanten, im augsburger Frieden 1555 nicht einig werden konnten. Die Protestanten nämlich verlangten, es solle auch den geistlichen Ständen (Erzbischöfen, Bischöfen, Prälaten, Stiftsherren) freistehen, zur protestantischen Kirche überzutreten; wogegen die Katholiken verlangten. daß der Übertritt den Verlust des Amtes und der Würde nach sich ziehen sollte. Die Entscheidung durch den röm. König Ferdinand ging endlich dahin. daß in solchem Falle Amt und Einkünfte allerdings, Ehren und Würde dagegen nicht verloren gehen sollten. Diese Entscheidung kam nur in den Ländern, welche unter protestantischen Fürsten standen, nicht in Anwendung. – Geistlichkeit hat man denjenigen Stand genannt, welcher sich dem Dienste der Kirche widmet. Er trat bei den Christen an die Stelle der Priester (s.d.) bei den Heiden, welche den Tempeldienst verwalteten und unter deren Obhut das ganze religiöse und oft auch das politische Leben stand. Es liegt dem Geistlichen alle Sorge für den religiösen Zustand der Gemeinde ob, sie sollen die Religion lehren, die religiösen Gebräuche üben, ermahnen zur Buße auffodern, trösten in den Leiden des Lebens, indem sie das Herz von den endlichen Dingen ab auf die ewigen wenden, das Gottvertrauen stärken und den sündigen Menschen der Gnade Gottes vergewissern, wenn er sein Herz reumüthig Gott zuwendet. Um dieses Alles auf würdige Weise thun zu können, ist nicht allein eine hohe religiöse Bildung, eine unerschütterliche Frömmigkeit, sondern überdies auch eine ungewöhnliche Bildung des Verstandes und der Beredtsamkeit nöthig, welche in den Stand setzen, Zweifel zu widerlegen und verhärtete Herzen zu rühren. Der Geistliche, welcher diese Eigenschaft, die sein Beruf nöthig macht, besitzt, übt aber auch über seine Umgebung eine ungemeine geistige Gewalt aus, welche er benutzen kann, unendlich viel Gutes zu wirken. Diese Herrschaft der Geistlichkeit wird um so größer sein, je mehr diese durch geistige Bildung über ihre Zeitgenossen sich erhebt, und wie die Religion alle Lebensverhältnisse des Menschen durchzieht, so wird auch die Herrschaft der Geistlichkeit über alle Lebensverhältnisse sich um so mehr ausbreiten, jemehr jenes der Fall ist. Werfen wir einen Blick auf die Geschichte, so finden wir, daß sich ein eigner Stand der Geistlichkeit unter den Christen schon in den ersten Jahrhunderten der Kirche auszubilden begann. Zwar hatte anfangs Jeder das Recht, in der Gemeinde zu sprechen, und die von den Aposteln eingesetzten Vorgesetzten hatten nur mit der äußerlichen Verwaltung der Gemeinde zu thun, und über die Reinheit der christlichen Lehre in derselben zu wachen; aber bald gewannen von selbst die geistig und religiös Gebildetsten den größten Einfluß, und die Vorsteherschaft der Gemeinden wurde am liebsten ihrer Leitung anvertraut. Um das Einschleichen falscher, aus Schwärmerei oder Sinnlichkeit kommender oder dem Heidenthum entlehnter Lehren zu verhindern, machte es sich auch bald nöthig, für die einmal erwählten geistlichen Vorgesetzten das alleinige Recht des öffentlichen Lehrens in Anspruch zu nehmen, und damit dieselben sich dem heiligen Berufe ungestört hingeben konnten, war es schon eine apostolische Verordnung, daß die Gemeinden für ihren Lebensbedarf die Sorge übernahmen. Nachdem die christliche Religion an die Stelle der alten heidnischen Staatsreligion des weltbeherrschenden Römerreichs getreten war, ging das Ansehen der heidnischen Priester auf die christliche Geistlichkeit über. Da man das geistige Wohl über das weltliche setzte, so gewann die Geistlichkeit auch auf die höchsten weltlichen Angelegenheiten großen Einfluß und dieser nahm zu, je weiter das Christenthum sich verbreitete. Die christliche Geistlichkeit wurde recht eigentlich die Erzieherin der Völker; sie verbreitete die Religion, milderte die Sitten, wachte über Handhabung der Gerechtigkeit, ermahnte aber auch zugleich zur christlichen Sanftmuth und Liebe; die Fürsten wurden angehalten, Väter [170] ihrer Unterthanen zu sein, die Unterthanen zum kindlichen Gehorsam gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit ermahnt. Überdies fanden die Wissenschaften bei der Geistlichkeit Aufnahme und Pflege. Mit Unrecht hat man alle hier angedeuteten unsterblichen Verdienste, welche sich die Geistlichkeit im Mittelalter um das Menschengeschlecht erworben hat, häufig vergessen, indem man nur die Misbräuche vor Augen gehabt hat, welche allerdings auch stattfanden, als eine so große Gewalt in die Hände der Geistlichkeit gekommen war, und welche endlich, nachdem sie allzu sehr um sich gegriffen hatten, die Reformation herbeiführten. Die protestantische Kirche erkennt das priesterliche Ansehen, welches auf die katholische Geistlichkeit aus heidnischen Zeiten übergegangen war, nicht an. Die Geistlichkeit ist nach protestantischem Lehrbegriff nicht Mittler zwischen Gott und Menschen, und es gibt keinen innern Unterschied zwischen Klerus und Laien (s.d.), sodaß etwa die Geistlichen Gott näher ständen als die Nichtgeistlichen. Jeder Christ soll sich und sein Leben Gott heiligen, und durch die göttliche Gnade wird sein Herz geheiligt, nicht aber durch die Weihe zum Geistlichen. Diese Weihe (Ordination) bezieht sich daher nur darauf, daß der Geistliche seine gesammte Thätigkeit auch äußerlich dem Dienste Gottes widmet und daß er, welcher der Gemeinde zum Lehrer und Vorbild dienen soll, ganz besonders verspricht, seinen Lebenswandel so einzurichten, wie es übrigens jedem Christen ebensowol als ihm geziemt. Als eine misverstandene Frömmigkeit, welche nur zu vermeidlichen Versuchungen zur Sünde führe, sieht es ferner die protestantische Kirche an, daß die katholische Geistlichkeit sich der Ehe enthält (s. Cölibat), und wie sie in den Geistlichen überhaupt keine Mittler und Stellvertreter Gottes erblickt, erkennt sie auch kein geistliches Oberhaupt an, wie die katholische Kirche ein solches im Papste hat, dessen Entscheidungen gleich göttlichen Aussprüchen zu achten wären. Der Geist Gottes soll die Geistlichen wie die Gemeinden durchdringen und beherrschen, und daß dieser Geist nie fehle, ist einer der höchsten auf einen Ausspruch Christi gegründeten Glaubensartikel der christlichen Religion. Auch dies misbilligt endlich die protestantische Kirche, daß die katholische Geistlichkeit in Besitz so großer Güter und weltlicher Macht gekommen ist, denn nicht in diesen sei die geistliche Würde zu suchen, noch seien sie zur Verrichtung der den Geistlichen obliegenden Geschäfte förderlich, sondern hierbei vielmehr hinderlich. – Wenn auch die protestantische Kirche in diesen Lehrmeinungen Recht hat, so muß doch andererseits auch anerkannt werden, daß der segensreiche Einfluß, den die Geistlichkeit auf die Erziehung der Völker gehabt hat, niemals hätte stattfinden können, wenn nicht die Geistlichkeit in den Zeiten der Roheit auch eine derartige äußere Gewalt und Würde erlangt hätte, wie dieses der Fall gewesen ist. (Vergl. Hierarchie.) – Einzelne christliche Sekten, wie Mennoniten und Quäker (s.d.), haben der Geistlichkeit ganz entbehren zu können geglaubt, doch hat sich später auch bei ihnen eine Art geistlichen Standes, wenn auch unter anderm Namen, ausgebildet.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 170-171.
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