Liebe

[743] Liebe pflegt man gewöhnlich jede Art von Zuneigung zu nennen, welche ein lebendiges Wesen gegen ein anderes oder gegen einen leblosen Gegenstand hegt. Hieraus folgt schon, daß die Liebe, sowol was die Stärke der Zuneigung, als was die geistige Würde einerseits des Liebenden, andererseits des Gegenstandes der Liebe betrifft, sehr verschieden sein müsse. In Wahrheit ist Liebe nur zwischen zwei geistbegabten Wesen möglich und ist ebenso sehr die innigste, als die leidenschaftloseste Zuneigung; das Erste, weil zwischen dem Liebenden und dem Geliebten eine Übereinstimmung, ja In-Einsbildung der Geister stattfindet, in welche jeder Unterschied als bedeutungslos verschwindet; das Letztere, weil wahre Liebe stets gegenseitig ist und wegen der Völligkeit des gegenseitigen Besitzes eine innere unstörbare Befriedigung gewährt, keine Begierde duldet, aus welcher die Leidenschaft entspringen konnte. Wie der Mensch einen Leib hat, damit derselbe nichts Anderes als ein räumlicher und zeitlicher Ausdruck, eine äußerliche Erscheinung seines Geistes sei, so wird auch die in der Liebe stattfindende Vereinigung der Geister naturgemäß leiblich sich ausdrücken; und zwar ist der sinnliche Ausdruck der Liebe um so nothwendiger, je weniger der Geist in der Liebe nach der Weise seines selbstbewußten, denkenden Daseins, je mehr er in ihr nur als Gemüth sich verhält. Die wahre Liebe kann ferner auch nur zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts stattfinden, denn der Geschlechtsunterschied bedingt in jedem Einzelgeiste eine Einseitigkeit, welche derjenigen entgegengesetzt ist, welche dem andern Geschlechte eigenthümlich ist. Das Gefühl der durch das Geschlecht bedingten geistigen Einseitigkeit drückt sich aus als Bedürfniß der Liebe, und dieses kann daher beim Menschen erst mit seiner geschlechtlichen Ausbildung, mit der Mannbarkeit, eintreten. Der Mann wird dasjenige Weib am meisten lieben, welches vermöge seiner geistigen Eigenthümlichkeit am meisten geeignet ist, durch innige Vereinigung mit ihm alles Dasjenige ihm zu gewähren, was ihm selbst mangelt, um in sich geistig befriedigt zu sein. Die Liebe zwischen Mann und Weib, die vollkommenste deren der Mensch durch sich [743] selbst fähig ist, wird vorzugsweise Geschlechtsliebe genannt. Da sie auf der geistigen Eigenthümlichkeit des Menschen beruht und seinem Geiste die ihm durch den Geschlechtsunterschied geraubte Vollendung, welche für ihn das erhabenste Bedürfniß ist, gewährt, so ist sie ihrer Natur nach ewig, sodaß die Liebe von der Treue völlig untrennbar ist. Diese untrennbare Vereinigung der Liebenden ist anerkannt von Kirche und Staat in dem Institute, der Ehe. Erst nach Anerkennung der menschlichen und geistigen Würde des Weibes, welche in Folge des Christenthums geschah, hat die Liebe in ihrer tiefern Bedeutsamkeit anerkannt werden können, und je höher der Mensch sich ausgebildet hat, desto mehr ist von ihm die tiefgeistige Bedeutung der Liebe begriffen worden. Wie der Körper bei dem sündigen Menschen aufhört, der bloße Ausdruck des Geistes zu sein, und sogar eine Macht gegen den Geist wird, so kann dieses namentlich auch in der Liebe stattfinden; sie kann zu einer bloßen Last der Menschen an der geschlechtlichen Verschiedenheit werden, von einer einzelnen Person des andern Geschlechts, dann geht sie über in bloße Verliebtheit, oder an jeder Person andern Geschlechts, endlich geht sie über in Unzucht. Am häufigsten wird die Verliebtheit mit der Liebe verwechselt, und tausend unglückliche Ehen, sowie der Zweifel, ob die Liebe in Wahrheit mit der Treue nothwendig verbunden sei, haben in dieser Verwechselung ihren Grund. So wenig der Mensch, so lange er lebt, sich des Leibes überhaupt entschlagen kann, ebenso unmöglich ist es, daß in der Geschlechtsliebe die Sinnlichkeit völlig ausgeschlossen bleibe, und die sogenannte Platonische Liebe, insofern sie eine solche Ausschließung beabsichtigt, ist ein thörichter Wahn oder eine Lüge gegen sich selbst und Andere, mithin eine Sünde. – Einen ebenso natürlichen Grund, wie die Geschlechtsliebe, hat die Ältern- und Kindesliebe, sowie die Geschwisterliebe; doch sind diese Arten der Liebe minder vollkommen als die Geschlechtsliebe. Sie beruht nämlich nicht, wie diese, auf einer Ergänzung des Geistes zu seiner ihm gemäßen Völligkeit, sondern auf einer durch den Familienzusammenhang bedingten Gleichmäßigkeit des geistigen Daseins, und besteht nicht wie die Geschlechtsliebe in In-Einsbildung unterschiedener Geister, sondern in dem Anschauen eines ähnlich ausgebildeten Geistes. Hierin liegt denn auch der Grund, warum eine Geschlechtsliebe zwischen Geschwistern unmöglich ist, denn ihnen geht grade Dasjenige ab, was die Geschlechtsliebe bedingt, die geistige Unterschiedenheit, und mit Recht wird daher von allen gebildeten Nationen der verliebte Umgang unter Geschwistern als unsittlich und sündhaft betrachtet. Da ursprünglich alle Menschen einen und denselben Geist besitzen, so folgt daraus, daß jeder Einzelne in allen Andern Vorhandensein des ihn selbst belebenden Geistes anerkennen und sie demgemäß behandeln soll, welches Sittengesetz das Christenthum als das Gesetz der Nächsten- oder Bruderliebe bezeichnet. Gott ist endlich der Urquell alles Geistes, und in und durch ihn finden wir Menschen die wahre geistige Vollendung, daher auch Beruhigung und Trost in allen Widerwärtigkeiten des Lebens; denn Alles, was wir Zufall und Schicksal nennen, ist vor Gott freie That des Geistes, und somit ist es die Liebe zu Gott, welche dem Menschen allein wahrer Seligkeit theilhaft machen kann. Die Liebe zu Gott hat mit der Geschlechtsliebe gemein, daß in ihr der unvollkommene Menschengeist ergänzt wird; aber wozu er ergänzt wird, das ist der vollendeten Heiligung durch die Liebe zu Gott, die göttliche Vollkommenheit. Darum ist die Liebe zu Gott um so viel erhabener als die Geschlechtsliebe, wie der göttliche Geist erhabener ist als der menschliche. In der Liebe zu Gott geht indeß schon der Mensch über seine menschliche Natur hinaus, und so wird sie selbst als eine nicht der Machtvollkommenheit des Menschen entsprechende Liebe, sondern als Gnade Gottes oder Liebe Gottes zu den Menschen, der gemäß sich Gott zu dem Menschen herabläßt, um denselben zu sich herauszuziehen, bezeichnet.

Es wurde gesagt, daß die wahre Liebe nicht ohne Gegenliebe sein könne, wol aber ist die Verliebtheit häufig, ja in der Regel einseitig. Um nun bei dieser die Gegenliebe des Andern zu erwecken, hat man schon im Alterthume auf allerlei künstliche Mittel gesonnen und namentlich glaubte man, daß Liebestränke oder Philtra bereitet werden könnten, durch deren Genuß die geliebte Person unwillkürlich zur Gegenliebe bestimmt würde. Hieran ist nur so viel Wahres, daß es allerdings gewisse Mittel gibt, welche gegenwärtig unter dem Namen Aphrodisiaca begriffen werden, durch welche der Mensch zur Sinnlichkeit aufgeregt wird, – der Verliebte kann durch ein solches Mittel wol zu seinem Zwecke gelangen, niemals aber der wahrhaft Liebende; dieser hat aber auch solcher Mittel nicht nöthig. Die Anwendung dieser Mittel ist verbrecherisch, weil durch dieselben der freie Wille des Menschen gelähmt wird – noch, dazu zu einem schändlichen Zwecke.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 743-744.
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