Offenbarung

[331] Offenbarung, d.i. eigentlich Enthüllung des Verborgenen, ist ein für Religion gebräuchliches Wort, wenn der höhere, göttliche Ursprung derselben bezeichnet werden soll. Alle Religion wird auf Offenbarung zurückgeführt, die in Rücksicht ihrer Form oder ihres Verhältnisses zur erkennenden Thätigkeit des Empfängers, nach dem biblisch-kirchlichen Sprachgebrauche eine doppelte, eine mittelbare und unmittelbare ist. Die mittelbare Offenbarung umfaßt diejenigen von Gott herrührenden Thatsachen, durch welche er es dem Nachdenken der menschlichen Vernunft möglich gemacht hat, das Göttliche zu erkennen und zu verstehen. Sie heißt die mittelbare, weil in ihr die Kenntniß des Göttlichen durch Nachdenken über gewisse, zwischen Gott und der menschlichen Vernunft inne liegende Gegenstände, wie Gestirne, Welt, Gewissen, Sittengesetz gewonnen und vermittelt wird. Sie ist natürliche Offenbarung, weil die Religionserkenntniß, die sie gewährt, ihren Grund in dem zum Bewußtsein gelangten Wesen der Vernunft hat, aber sie bleibt Offenbarung, weil sie von durch Gott gewirkten Thatsachen ausgeht. Das Verhältniß des Menschen zur Religion ist hier ein thätiges; er sucht und ergreift Gott. Unmittelbare Offenbarung ist die über Vernunft und Natur erhabene Mittheilung religiöser Wahrheiten durch geistige Einwirkung Gottes auf die menschliche Seele, ohne die Dazwischenkunft einer vermittelnden Ursache, um ihr das Göttliche kund zu thun, darum ist sie unmittelbar und übernatürlich. Hier verhält sich der Mensch zur Religion leidend; Gott sucht und ergreift ihn. Beide Offenbarungen sind des höhern Ursprungs der Religion gewiß in einem allgemeinen und einem besondern Sinne; beide sind nach ihrem Inhalte nicht wesentlich voneinander unterschieden, denn wenn die unmittelbare Offenbarung Religionsgeheimnisse, Lehren oder Thatsachen enthält, deren Natur nicht ganz und deutlich verstanden werden kann, so sind dieselben in ihrer Unbegreiflichkeit nicht als widervernünftig, sondern als übervernünftig zu denken. Auch gehört es nicht mit zu dem Begriff dieser Offenbarung, daß die religiösen Wahrheiten, die sie enthält, solche sein müßten, welche die menschliche Vernunft nicht hätte entdecken können, sondern daß sie durch besondere göttliche Veranstaltung entstanden, außerordentlich von Gott mitgetheilt worden sind. Der Glaube an eine unmittelbare und besondere Offenbarung wird als die ursprüngliche Quelle der Religion betrachtet. Er war vom frühesten Alterthume herrschend und alle Religionen der alten und neuen Welt werden von ihren Bekennern auf die Mittheilung und Belehrung der Gottheit zurückgeführt; sie heißen darum schlechthin geoffenbarte, oder was gleichbedeutend ist, positive, d.h. auf das göttliche Ansehen ihres Inhalts gegründete Religionen, deren jede eine besondere göttliche Offenbarung für sich hat, die in heiligen Büchern, welche Offenbarungsurkunden oder auch Offenbarungen heißen, enthalten sind.

Die höchste und allein glaubwürdige Offenbarung ist in der Bibel enthalten. Ihre Geschichte ist die fortgesetzte Wirksamkeit Gottes in der Unterrichtung und Belehrung der Menschen über die höhern Angelegenheiten der Religion. Sie beginnt mit dem Anfange des Menschengeschlechts und nimmt mit der geistigen Entwickelung desselben den gleichen Fortschritt zur Vollkommenheit und Vollständigkeit des Unterrichts. In ehrwürdigen Sagen ist Gott so für die Belehrung der Menschen vor dem Untergange derselben durch die Sündflut wirksam; nach derselben sind es die drei Väter der Familie Abrahams (s. Erzväter), die er höherer Offenbarungen würdigt. Als die Familie zum Volke herangewachsen ist, verkündigt er sich aufs Neue demselben durch Moses und macht die reinere Religionserkenntniß zu seinem Eigenthume, die er alsdann in der Reihenfolge der Propheten, die er mit seinem Geiste erfüllt, durch alle Zeiten der Abgötterei und Knechtschaft fort und fort lebendig erhält, bis er sich zuletzt und aufs. Höchste und Vollkommenste in Christus der ganzen Menschheit als liebender Vater offenbart. Mit Christus und den Aposteln verstummten die Stimmen der höhern Offenbarung Gottes und fortan sollte jedes Verlangen nach dem Höchsten und Vollkommensten in der Religion durch sie Befriedigung finden. Je tröstlicher und beruhigender nun ein den Menschen von Gott mitgetheilter Religionsunterricht sein muß, um so wichtiger war es, zu wissen, ob wirklich eine unmittelbare Offenbarung Gottes stattgefunden habe. Zwar hat ein Zweifel daran in [331] der Kirche früher niemals obgewaltet und die Bekenntnißschriften aller christlichen Kirchen und kirchlichen Parteien lassen in der vollen Überzeugung an den göttlichen Ursprung des Christenthums die Frage gänzlich unberührt; Theologen der protestantischen Kirche gingen selbst so weit, zu behaupten, daß jedes Wort in der h. Schrift den Verfassern derselben vom h. Geiste dictirt worden sei. Als aber die Philosophie der neuern Zeit siegreich ihren Einfluß auf die Theologie geltend machte, da wurde auch der Offenbarungsglaube ein Gegenstand vielfacher Untersuchung, deren Erfolge oft die widersprechendsten waren. Wenn es überhaupt kein Kennzeichen der unmittelbar göttlichen Wirksamkeit gab und dieselbe auf dem jedesmaligen Glauben der gotterleuchteten Männer beruhte, von dem ein Dritter kein Wissen hatte, so suchte man die unbedingte oder bedingte Nothwendigkeit der Offenbarung dadurch darzuthun, daß man theils die vorgefaßte Meinung von dem Sündenfall, in Folge dessen der Mensch nicht habe zur Erkenntniß der Wahrheit kommen können, hervorhob, theils die natürliche Trägheit und Langsamkeit der Vernunft in göttlichen Dingen, der durch besondere göttliche Beihülfe habe abgeholfen werden müssen, geltend machte. Indem man auf der andern Seite jedes Vorurtheil verschmähte und die höhere Natur des Göttlichen in der Einheit des menschlichen Bewußtseins unerklärlich fand, war man zugleich bemüht, den Unterschied des mittelbaren und unmittelbaren Wirkens Gottes als menschlich und bei Gott unstatthaft darzuthun, in Allem aber die Religion, ob vollkommen oder unvollkommen, als die nothwendige Folge der unter der göttlichen Vorsehung sich entwickelnden Vernunft zu betrachten und ihr als Offenbarung keine höhere Wirklichkeit, als die der eignen Vorstellungsweise zu gönnen, da sie, wie sie allein zu Gott führe, so auch am meisten und zunächst von ihm hergeleitet worden sei. Wie dem auch sei, so wird doch die Offenbarung selbst durch die Vortrefflichkeit ihres Inhalts jedem Denkgläubigen immer das werthvollste Geschenk Gottes sein, welches Herz und Sinn des Menschen zum Unendlichen erhebt, wenn er dasselbe auch in seiner Überschwenglichkeit nicht begreifen kann. – Die Offenbarung Johannis, welche die Sammlung der neutestamentlichen Schriften schließt, führt diesen Namen als prophetisches Buch, das nach Art des Propheten Daniel in einer Reihe kühner Bilder und dunkler Gesichte den Sieg des Christenthums über das Juden- und Heidenthum schildert. S. Johannes der Evangelist.)

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 331-332.
Lizenz:
Faksimiles:
331 | 332
Kategorien: