Gewissen

[216] Gewissen ist die jedem Menschen von Gott eingegebene Stimme, welche ihm sagt, ob seine Handlungen gut oder böse sind; man kann es mit Recht eine Stimme Gottes in der Brust des Menschen nennen, deren Besitz dem Menschen bezeugt, daß er in der That göttlichen Geschlechts sei. Das Gewissen hat seinen Sitz im Gefühl des Menschen, denn es gehört nicht eine gewisse Bildung des Verstandes dazu, um das Gewissen kennen und verstehen zu lernen. Der unverständigste Mensch hat so gut ein Gewissen wie der verständigste. Niemand kann sich beschweren, daß sein Gewissen ihn irregeleitet habe, denn das Gewissen selbst ist unfehlbar, nur daß häufig Triebe und Leidenschaften im Menschen so mächtig sind, daß er über ihren ungestümen Foderungen die Stimme seines Gewissens überhört. Das Gewissen läßt sich betäuben, es läßt sich durch Laster einschläfern, aber es kommt auch stets die Zeit, wo es erwacht. Während ein gutes Gewissen den Menschen bei jeder guten Handlung, die er thut, mit einem Gefühl der Befriedigung, ja der Seligkeit belohnt, quält ihn ein böses Gewissen, welches ihn beim Begehen der bösen That schon mit einem Zittern und Zagen befällt, nach der That mit einer steten Unruhe, einem Unfrieden, einer Seelenqual (Gewissensangst, Gewissensbisse), welche er vergebens zu verheimlichen und zu verscheuchen sucht und die nicht selten selbst die verstocktesten Bösewichter zum freiwilligen Geständniß ihrer Schuld bringt. Von einem Menschen, der sich Manches erlaubt, was sich mit strengen Begriffen von Tugend nicht vereinigen läßt, sagt man nicht ganz richtig, daß er ein weites Gewissen habe. Wie das Gewissen eingeschläfert werden kann, so kann eine peinliche, am Ende alle Thatkraft vernichtende Ängstlichkeit (Gewissensscrupel) an die Stelle des rechten Gewissens gesetzt werden, welche Krankhaftigkeit dann sehr mit Unrecht als besonders zartes Gewissen gerühmt wird. – Gewissenssachen nennt man alle guten Handlungen, zu denen man nicht gesetzlich angehalten werden kann, von denen uns aber das Gewissen sagt, daß man sie als tugendhafter Mensch zu vollführen habe; ferner aber auch alle Fälle, deren Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit nicht auf eine allgemein gültige Weise festgesetzt werden kann, weil es bei denselben auf die besondern Verhältnisse der Person, welche sie betreffen, ankommt und deren Gewissen mithin die Entscheidung zusteht. – Gewissenszwang ist der unrechtliche Zustand, in welchem Jemand genöthigt wird, anders, als seinem Gewissen gemäß, zu handeln. Demselben steht gegenüber die Gewissensfreiheit, welches Wort oft auch gleichbedeutend mit Religionsfreiheit (s. Religion) gebraucht wird. – Gewissensvertretung nennt man in Rechtsstreitigkeiten den Beweis, welchen Jemand zu führen unternimmt, um eine Thatsache darzuthun, wegen welcher ihm von der Gegenpartei der Eid zugeschoben worden ist. Gelingt ihm der Beweis, so ist er des Eides überhoben, im Gegentheil ist er genöthigt, entweder den Eid zu leisten oder sein Unrecht einzugestehen. Gewissensehe nennt man eine Ehe, die zwar ohne äußere Formen, aber doch mit der gegenseitigen Verpflichtung eingegangen wird, die Heilighaltung der Ehe als Gewissenssache zu betrachten.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 216.
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