Tugend

[491] Tugend, von taugen abgeleitet, bezeichnet die Zweckmäßigkeit des menschlichen Willens in der freien Bestimmung desselben für das höchste Gute, das dem Menschen in der Religion zur Verwirklichung dargeboten wird, d.i. das unausgesetzte, ernstliche Bestreben, das Rechte und Gute zu wollen und zu vollbringen, aus keinem andern Grunde, als weil es recht und gut ist. Das Gute wird bestimmt durch das sittliche Gefühl oder das Gewissen, was den Unterschied des Bösen und Guten in jedem einzelnen Falle ins Bewußtsein bringt und zugleich die Verbindlichkeit, das Erstere zu vollbringen, auferlegt und als eine Stimme Gottes im Menschen, auf Gott, den Urquell alles Guten, zurückführt. Die Tugend wurzelt demnach wesentlich in der religiösen Gesinnung und das innere Wohlgefallen am Guten, wie auch das unausgesetzte Bestreben, dasselbe in seinen Handlungen auszudrücken und dadurch gottähnlicher und gottwohlgefälliger zu werden, Beides bestimmt den Begriff der Tugend. Die Tugend ist daher nichts Zufälliges und äußerlich Vorübergehendes, sondern eine durch fortgesetzte Übung erlangte Fertigkeit im Guten, als solche zu immer größerer Vollkommenheit fortschreitend und im Kampfe mit den Neigungen und Bestrebungen der sinnlichen Natur nie ohne die Versuchung zur Sünde. Wie aber das Gute als das Göttliche nicht erst durch etwas Anderes von außen her seinen Werth erhält, sondern in sich selbst das Vollkommene ist, so soll auch die Rechtschaffenheit und Tugend nicht aus anderweitigen niedrigen und dem sittlichen Streben jederzeit nachtheiligen Beweggründen hervorgehen, z.B. den des Eigennutzes, des Ruhms und Beifalls vor den Menschen. Dennoch vermag die menschliche Tugend in den ihr angewiesenen Schranken sich nicht zur wahren Heiligkeit und Vollkommenheit zu erheben und das Göttliche in Gesinnung und That rein und fleckenlos darzustellen, nicht nur weil der Verstand dem religiösen und sittlichen Irrthum ausgesetzt ist, sondern auch wegen des durch sinnliche Einflüsse oft gestörten und erkalteten Eifers im Guten, wie selbst im Leben des Frommen neben der thatkräftigsten Gesinnung sich Zustände der Schlaffheit und Lässigkeit im Guten finden. Im Christenthum ist die Tugend an die Bedingung des Glaubens gebunden, der auf Christus und seinen Versöhnungstod gegründeten Zuversicht, daß Gott die Sünden vergebe, sowie der hieraus fließenden geistigen Belebung und Herzensbesserung. Das Christenthum ist die Offenbarung der Liebe Gottes in Christo, und das gläubige Festhalten derselben soll für den Christen das Mittel sein, das Gute aus reinem Wohlgefallen an demselben, aus Liebe und Dankbarkeit gegen Gott zu vollbringen, indem ihm zugleich in Christus das Musterbild dieser höchsten Tugend vorgehalten wird. Das Vorbild seines Todes soll ihn antreiben zur Aufopferung für die Brüder, zur Hingabe für Wahrheit und Tugend, zur Selbstverleugnung und Selbstentäußerung. Wie jener soll er die Brüder lieben, mehr als sich selbst; soll er sein Kreuz auf sich nehmen und sich selbst verleugnen; soll er dem bisherigen Leben, dem Selbst, den Lieblingsneigungen gleichsam absterben, und mit und durch Christus zum neuen Leben erstehen, nicht mehr sich selbst, sondern Gott und Christo leben, Christum in sich leben lassen. So mannichfaltig und reich die Tugenden des Christen gestaltet sind, so gehen sie doch alle aus einer und derselben gottgläubigen Gesinnung hervor; wie aber der Mensch nicht aus eigner Kraft im Glauben zur Erkenntniß der Sünde und zum Troste der Liebe Gottes gelangt, so wird auch die christliche Tugend nicht als ein Werk selbsteigner Willenskraft, sondern als Geschenk der freien Gnade Gottes betrachtet. Die Annahme gewisser Haupt- und Grundtugenden, von welchen alle andern, wie die Zweige und Äste vom Stamme sich ableiteten, führte zu dem ursprünglich der heidnischen Philosophie eignen Begriff der Cardinaltugenden (s. Cardinal).

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 491.
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