Gewissen

[805] Gewissen (mittelhochd. gewizzen, »Kenntnis, Bewußtsein«, dann auch »Gewissen«), das Pflichtbewußtsein, insofern es sich neben den natürlichen Trieben und Neigungen und bisweilen sogar im Gegensatz zu ihnen als Triebfeder des Wollens geltend macht oder wenigstens nachträglich die Billigung oder Mißbilligung der bereits vollbrachten Handlungen veranlaßt. Daher heißt »nach bestem Wissen und G.« handeln soviel wie so handeln, wie es (subjektiv) als richtig und pflichtmäßig erscheint; Gewissensskrupel empfinden wir, wenn wir fürchten, durch eine beabsichtigte Tat in Widerspruch zu unserm Pflichtbewußtsein zu geraten. Gewissensbisse heißen die quälenden Empfindungen der Reue (s.d.), die mit dem Bewußtsein, nicht so gehandelt zu haben, wie wir sollten, verbunden sind, und dies Bewußtsein selbst heißt böses G. im Gegensatz zum guten oder reinen G. Je nach der Art der Pflichten, um die es sich handelt, spricht man wohl auch speziell von wissenschaftlichem, künstlerischem, religiösem G. Das G. ist somit nichts andres als das in der Seele des Einzelnen zur wirksamen Macht gewordene Sittengesetz. Wie dieses (objektiv) mit seinem »du sollst« und »du sollst nicht« als unbedingt gebietende Autorität dem [805] Individuum entgegentritt, so erhebt sich in ihm (subjektiv) die Stimme des Gewissens antreibend und abmahnend, lobend und tadelnd. In bezug auf die Erklärung des Gewissens stehen sich in der Ethik zwei Ansichten gegenüber. Nach dem Intuitionismus (s.d.) ist das G. ein ganz eigenartiges und ursprünglich in der menschlichen Seele wurzelndes (bez. von Gott ihr eingepflanztes) Vermögen sittlicher Erkenntnis, dessen Aussprüche daher bei allen Menschen und zu allen Zeiten dieselben und untrüglich sicher sind; nach dem ethischen Empirismus dagegen ist es beim Einzelnen wie bei ganzen Völkern ein Erzeugnis der sittlichen Entwickelung. Mag man sich auf den einen oder den andern Standpunkt stellen, in jedem Fall ist das G. als ein sehr wesentliches und unentbehrliches Element des sittlichen Lebens anzuerkennen. Vgl. Kähler, Das G., ethische Untersuchungen (Halle 1878, nur Bd. 1); Rée, Die Entstehung des Gewissens (Berl. 1884); Elsenhans, Wesen und Entstehung des Gewissens (Leipz. 1894).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 805-806.
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