Vermögen

[86] Vermögen, die Fähigkeit zu einer Tätigkeit, z. B. Sehvermögen, geistiges V.; die Summe der einem einzelnen zustehenden Güter. In der Rechtswissenschaft versteht man unter V. die Summe der im Eigentum einer Person befindlichen Sachen, dinglichen Rechte, Forderungen und Schulden Das Bürgerliche Gesetzbuch faßt zwar grundsätzlich das V. nicht als Einheit auf; mit Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse läßt es das V. aber gleichwohl in einzelnen wichtigen Fällen, z. B. im Erbrecht, als Vermögenseinheit gelten. Verträge, durch die das gegenwärtige V. ganz oder teilweise übertragen oder daran ein Nießbrauch (s. d.) bestellt wird, bedürfen nach § 311 des Bürgerlichen Gesetzbuches der gerichtlichen oder notariellen Beurkundung. Betreffen solche Verträge ein künftiges Vermögen, so sind sie nichtig (§ 310). Übernimmt jemand durch Vertrag das gesamte V. eines andern, so haftet er neben dem andern dessen Gläubigern von dem Abschlusse des Vertrags an für die zu dieser Zeit begründeten Ansprüche, jedoch unter Beschränkung der Haftung auf den Bestand des übernommenen Vermögens und die aus dem Übernahmevertrag dem Übernehmer zustehenden Ansprüche. Vertraglich kann diese Haftung nicht zwischen dem Übernehmer und dem bisherigen Schuldner eingeschränkt oder ausgeschlossen werden (§ 419 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Unter freiem V. eines Kindes versteht man all das Eigentum des minderjährigen Kindes, an dem der Vater kein Nutznießungs-, wohl aber ein Verwaltungsrecht hat. Hierher gehören 1) die ausschließlich zum persönlichen Gebrauch des Kindes bestimmten Sachen, insbes. Kleider, Schmucksachen, Arbeitsgerät; 2) was das Kind durch seine Arbeit oder den ihm gestatteten selbständigen[86] Betrieb eines Erwerbsgeschäftes erwirbt; 3) was das Kind von Todes wegen erwirbt oder was ihm unter Lebenden von einem Dritten unentgeltlich zugewendet wird, wenn der Erblasser durch letztwillige Verfügung oder der Dritte bei der Zuwendung bestimmt hat, daß das V. der Nutznießung des Vaters entzogen sein soll; 4) was das Kind auf Grund des freien Vermögens erwirbt; 5) das V. des Kindes, auf dessen Nutznießung der Vater verzichtet (vgl. Bürgerliches Gesetzbuch, § 1650 und 1651). Freies V. der Frau wird vielfach auch deren Vorbehaltsgut (s. Ehegüterrecht, S. 401 f.).

In der Volkswirtschaftslehre wird oft der Begriff V. in der gleichen Weise definiert wie in der Rechtslehre, dabei spricht man aber auch von Volks- (National-) und Weltvermögen, indem man nur einen gewissen Vorrat von Gütern ins Auge faßt. Das V. ist die Grundlage selbständiger wirtschaftlicher Existenz und ist ein wichtiger Faktor für Stärkung des Kredits und für fortschreitende Individualisierung. Die Ermittelung des jeweiligen Vermögensstandes und seiner Änderungen hat für die Privat-wie für die Volkswirtschaft ein großes Interesse, indem sie über den Erfolg wirtschaftlicher Maßregeln Aufschluß gibt. Die Messung des einer einzelnen Privatperson gehörigen Vermögens ist verhältnismäßig leicht auszuführen, schwierig oder geradezu unmöglich aber ist eine genaue Bezifferung des gesamten Volksvermögens, d. h. aller derjenigen Gegenstände, die Angehörigen eines Volkes (mit Einschluß aller juristischen Personen) zur Verfügung stehen, mit Berücksichtigung der Forderungsrechte und Schulden an fremde Nationen. Abgesehen von dem Mangel einer zuverlässigen Statistik, enthält das Volksvermögen eine Menge sehr wertvoller Elemente. die in Geld nicht wohl taxierbar sind (Häfen, Mineralquellen, naturfreie Güter etc.). Auch würde die Summe keinen hinreichenden Aufschluß über die wirtschaftliche Lage geben, da auch die Art der Verteilung und die der Verwendung (Vermögensobjekte als Schutzmittel gegen Naturgefahren gegenüber dem Nutzvermögen) in Betracht zu ziehen ist. Die Zahlenangaben sind deshalb nur sehr approximativer Natur. Nach neuern Schätzungen stellt sich das Volksvermögen in den wichtigsten Staaten folgendermaßen: Großbritannien 1893: 10,4–10,8 Milliarden Pfd. Sterl. (nach Foville); Frankreich 1890: 225 Milliarden Fr. (Foville); Vereinigte Staaten 1890: 65 Milliarden Doll. (amtliche Schätzung); Belgien um 1890: 30–34 Milliarden Fr.; Rußland um 1880: ca. 10 Milliarden Rubel; Österreich um 1890: etwa 30 Milliarden Gulden (v. Inama); Ungarn: 10,3 Milliarden Gulden (Fellner); Italien 1885–90: 48–55 Milliarden Lire (Pantaleoni-Bodio); das V. Deutschlands soll nach einer allerdings oberflächlichen Schätzung Beckers 1886: 175 Milliarden Mk. betragen haben, darf aber heute erheblich höher angenommen werden. In denjenigen Staaten, in denen Vermögenssteuern bestehen, kann wenigstens das nutzbringende Vermögen mit einiger Zuverlässigkeit festgestellt werden. So beträgt in Preußen das zur Ergänzungssteuer veranlagte V. 1905–07: 81,4 Milliarden Mk. (1895: 63,9 Milliarden), wobei aber zu berücksichtigen ist, daß V. unter 20.000, bez. 6000 Mk. (s. Vermögenssteuer) steuerfrei sind. Weit schwieriger noch ist die Vergleichung zwischen verschiedenen Völkern und Zeiten, zumal es hier an einem brauchbaren Maßstab fehlt und die Statistik der Vergangenheit kaum das kärglichste Material bietet. Es müssen deshalb, auch wenn aus Einkommensermittelungen durch Kapitalisierung eine Zahl gewonnen wurde, noch allgemeine Kennzeichen zur Beurteilung der Vermögenslage und ihrer Änderungen zu Hilfe genommen werden. Solche sind: die Statistik der jährlichen Gütererzeugung, Größe von Aus- und Einfuhr, natürliche und räumliche Bewegung der Bevölkerung, wie Eheschließungen, Geburtsziffer, Sterblichkeit, durchschnittliche Lebensdauer, Aus- und Einwanderung, Sanitätsverhältnisse, Kriminalstatistik, Zahl der Armen mit Rücksicht auf die Art der Armenpflege, Stand des Lohnes in verschiedenen Arbeitszweigen mit Beachtung der Arbeitszeit, Hauptnahrung der Masse, ihre Wohnungsverhältnisse, Aufwand, der für feinere Bedürfnisse und für größere kostspielige Anlagen gemacht wird, der Stand der internationalen Kreditverhältnisse, Vorkommen von großen Zahlungen im Innern und nach außen, Zahl und Art der abgeschlossenen Versicherungen (Feuer-, Lebensversicherungen), Höhe der Staatseinnahmen, insbes. Bewegung der Verbrauchssteuern etc. Von dem Volksvermögen verschieden ist das Staatsvermögen, d. h. die im Eigentum des Staates als solchem stehenden Güter. Es weist drei Bestandteile auf: einmal die öffentlichen Sachen, die im allgemeinen Gebrauch stehen, wie die öffentlichen Gewässer, Verkehrswege; sodann das Verwaltungsvermögen, d. h. diejenigen Vermögensgegenstände, die unmittelbar für Staatszwecke gebraucht werden; endlich das Finanzvermögen, das durch seinen Wert oder Ertrag zur Bestreitung des Staatsaufwandes dient und in Besitz und Nutzung des Fiskus steht. Vgl. Birkmeyer, Über das V. im juristischen Sinn (Erlang. 1879); Weinschenck, Das Volksvermögen (Jena 1896); Ehrenberg, Große V., ihre Entstehung und ihre Bedeutung (Jena 1902–05, 2 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl. 1905); Strieder, Zur Genesis des modernen Kapitalismus (Leipz. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 86-87.
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