Pflicht [1]

[744] Pflicht heißt jedes Tun oder Unterlassen, das innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft als durch sich selbst geboten anerkannt wird. Es gehört demnach zum Wesen der P., daß sie die Frage: warum? ausschließt und als unbedingten Gehorsam heischendes Ge- oder Verbot, als »kategorischer Imperativ« auftritt. Da das Pflichtgebot sehr häufig in Gegensatz tritt zu den natürlichen Trieben und Begierden des Einzelnen, so kann es unmöglich im Individualwillen begründet sein, erscheint vielmehr als ein diesem fremdes, außer ihm entspringendes Element. Daher betrachtet die heteronome (religiöse) Ethik die Pflichten als (der Seele eingepflanzte) göttliche Gebote, und sieht die aprioristische (intuitionistische) Ethik in ihnen Forderungen der »praktischen Vernunft«, die wie die logischen Axiome an sich selbst einleuchtend seien (vgl. Gewissen). In Wahrheit läßt sich das Pflichtbewußtsein als ein Ergebnis der sittlichen Entwickelung der menschlichen Gesellschaft erklären (vgl. Sittengesetz), wie es denn auch dem Einzelnen immer erst durch die Erziehung eingepflanzt wird. Pflichtenlehre heißt der Teil der praktischen Ethik, der auf Grund eines bestimmten Moralprinzips die Gesamtheit der Pflichten systematisch zu entwickeln sucht. Man unterscheidet in der Regel allgemeine (ursprüngliche, unbedingte) Pflichten, die für alle Menschen und in allen Verhältnissen gelten, und besondere (abgeleitete, bedingte), z. B. Standespflichten, die von besondern Lebensbeziehungen abhängen; ferner solche gegen sich selbst (Mäßigkeit, Selbstbeherrschung etc.) und solche gegen andre (Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit etc.). Pflichtenkollision (Widerstreit der Pflichten) ist das Zusammentreffen mehrerer nicht gleichzeitig erfüllbarer Verbindlichkeiten, wodurch (wie in der Antigone des Sophokles, in Goethes Iphigenie) ein tragischer Konflikt entsteht; nur das sittliche Taktgefühl des Einzelnen kann entscheiden, welcher P. im gegebenen Fall der Vorrang gebührt. Pflichtgefühl heißt der individuell verschiedene Grad der Bestimmbarkeit des Wollens durch die P.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 744.
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