Begierde

[559] Begierde, in der Psychologie jeder mit der Vorstellung eines Objektes (Zieles) verknüpfte Trieb (s. d.). Während alle Triebäußerungen in Gefühlen (s. d.) wurzeln, kommt also bei der B. als neues Moment die Vorstellung hinzu. Das neugeborne Kind z. B. bekundet einen Trieb nach Nahrung, dem zweifellos nur ein dumpfes Hungergefühl zu Grunde liegt; da aber die Befriedigung desselben regelmäßig mit der Darreichung (also der Wahrnehmung) der Mutterbrust verbunden ist, so gesellt sich allmählich der Regung des Triebes von vornherein die Vorstellung der letztern zu, und damit wird der Trieb zur B. Begierden können sich also nur auf Grund der Erfahrung in der Seele entwickeln. Ihrer Richtung nach hat die B. entweder die Form des Verlangens oder des Widerstrebens, ihrem Objekt nach kann sie eine sinnliche oder eine geistige sein. Zu der erstern Klasse gehören z. B. das Verlangen des Kindes nach Zucker, sein Abscheu vor der bittern Medizin, zu der zweiten das Streben nach Schmuck und Schönheit, das Verlangen nach Belehrung (geistiges Interesse), das Streben Gutes zu tun, die Abneigung gegen das Häßliche, das Widerstreben gegen eine schlechte Tat etc. Die geistigen Begehrungen bilden aber nur die höchste Stufe einer mit den einfachsten sinnlichen Trieben beginnenden Entwickelungsreihe; wären letztere nicht vorhanden, so ist gar nicht abzusehen, wie jene höhern Formen sich bilden könnten. Es ist deshalb auch durchaus falsch, wenn behauptet wird, daß die höhere geistige und moralische Entwickelung des Menschen die Ausrottung der natürlichen Triebe zur Voraussetzung habe; dies ist eine Unmöglichkeit, und nicht darauf kommt es an, sondern die Entwickelung höherer Formen des Begehrens aus den niedern ist die Aufgabe, welche die Erziehung zur Menschlichkeit zu lösen hat. Hierbei spielt der Konflikt der Begierden eine bedeutsame Rolle (z. B. wenn das Kind zwischen der B. nach einem verbotenen Genuß und dem Widerstreben gegen Strafe schwankt), und mit Benutzung desselben gelingt es, höhere Formen des Begehrens heranzuziehen und ihnen das Übergewicht über die niedern zu sichern (ein Prozeß, den Spinoza in seiner »Ethik« sehr richtig als den einzigen Weg, auf dem die »Vernunft« die Herrschaft über den Willen erlangen kann, geschildert hat). Das Wünschen ist ein Begehren, das auch, ungeachtet der Unerreichbarkeit des Begehrten, auf demselben beharrt. Vgl. Wille.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 559.
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