Vorstellung

[264] Vorstellung, das in unserm Bewußtsein erzeugte, aus Empfindungen als seinen Elementen zusammengesetzte Bild eines Gegenstandes oder Vorganges. Während die Erkenntnistheorie, ausgehend von dem Satze, daß uns unmittelbar immer nur Vorstellungen von Gegenständen, niemals diese selbst gegeben sind (»Die Welt ist meine V.«, Schopenhauer), jene auf ihren Wert als Werkzeuge der Wirklichkeitserkenntnis prüft, betrachtet die Psychologie sie lediglich als Erscheinungen des Seelenlebens mit Rücksicht auf ihr Wesen, ihren Ursprung und ihr Verhalten. Von allen andern Seelenzuständen, insbes. den Gefühlen, Gemütsbewegungen, Willensregungen, unterscheidet sich die V. sehr bestimmt durch die ihr anhaftende Beziehung auf ein Gegenständliches, im Verlauf des Seelenlebens sind jedoch alle diese Zustände in mannigfacher und inniger Weise miteinander verknüpft; wenn dabei die Vorstellungen eine gewisse dominierende Rolle spielen, insofern Gefühle, Begierden etc. meist durch sie angeregt werden, so hat doch die Theorie Herbarts, nach der die V. das seelische Grundphänomen ist, keine ungeteilte Anerkennung gefunden, vielmehr werden in der Regel Vorstellen. Fühlen und Wollen als nicht auseinander zurückführbare Funktionen der Seele angesehen. Den ersten Anlaß zum Zustandekommen von Vorstellungen geben die unsre Sinnesorgane treffenden äußern Reize; wo die Fähigkeit der Sinnesempfindung eine beschränkte ist (beim Blinden, Tauben etc.), da ist auch das Vorstellungsleben entsprechend arm, und je mannigfaltigere Eindrücke wir aufnehmen, desto reicher ist (unter sonst gleichen Umständen) unser Vorstellungsschatz. Auf der unmittelbaren Erregung beruhen die Sinnesvorstellungen oder Wahrnehmungen (s. d.), aus diesen leiten sich dann weiter die reproduzierten oder Phantasie-Vorstellungen (Vorstellungen im engern Sinn) ab, die teils unveränderte Wiederholungen jener sind, teils dadurch entstehen, daß die Bestandteile früherer Wahrnehmungen von selbst nach den Gesetzen des Vorstellungsmechanismus (s. Ideenassoziation) in neue Verbindungen treten, oder durch unsre Phantasie (s. d.)[264] in solche gebracht werden. Die erstern sind im allgemeinen durch ihre Lebhaftigkeit, Deutlichkeit, ihr vom Willen unabhängiges, auf eine äußere, der Seele fremde Gesetzmäßigkeit hinweisendes Auftreten, durch sie begleitende Empfindungen in den Sinnesorganen (Spannungsempfindungen im Auge, Ohr etc.), die letztern durch die entgegengesetzten Eigenschaften gekennzeichnet. Dementsprechend halten wir bisweilen sehr schwache und undeutliche Wahrnehmungen für bloße Phantasiegebilde und sind nicht imstande, die lebhaften Vorstellungsbilder des Traumes, der Hypnose, die Halluzinationen etc. von der Wahrnehmung wirklicher äußerer Gegenstände zu unterscheiden. In der Tat kann das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines der V. entsprechenden Gegenstandes in psychologischer Hinsicht keinen Unterschied ausmachen, da einerseits die Sinneswahrnehmungen nicht passiv aufgenommene Abbilder der Dinge sind, sondern unter Mitwirkung psychischer Funktionen in der Seele entstehen, anderseits nach dem Prinzip des psychophysischen Parallelismus (s. d.) auch die »bloße« V. von Vorgängen im Gehirn begleitet wird; der Unterschied ist nur der, daß im ersten Falle das Gehirn durch peripherische (von den Sinnesorganen herkommende), im zweiten durch zentrale (im Gehirn selbst entstehende) Reize erregt wird, mögen diese nun, wie bei den gewöhnlichen Erinnerungsbildern und Phantasievorstellungen, normaler oder, wie bei den Halluzinationen, pathologischer Art sein. Hat somit alles Vorstellen eine körperliche Grundlage, so ist mit ihm auch immer eine Tendenz verknüpft, sich ganz unwillkürlich und unbewußt in Bewegungen, die sogen. ideomotorischen Bewegungen (s. d.), umzusetzen, wofür die instinktive Nachahmung äußerlich wahrgenommener (besonders rhythmischer) Bewegungsvorgänge, die beständig vorhandene, wenn auch meist durch den Willen unterdrückte Neigung, das Gedachte in Worten auszudrücken, bekannte Beispiele bilden. Niemals tritt in unserm Bewußtsein eine V. einzeln, isoliert, sondern stets im Zusammenhang mit andern, gleichzeitig oder sukzessiv vorhandenen auf. Zwar ist der Umfang dessen, was wir auf einmal scharf aufzufassen vermögen, wegen der sogen. Enge des Bewußtseins (s. Apperzeption) beschränkt, aber es hängen doch immer mit der gerade im Blickpunkte des Bewußtseins befindlichen V. eine Menge andrer zusammen, wenn auch deren Existenz häufig nur durch den modifizierenden Einfluß, den sie auf jene ausüben, bemerklich wird, so daß man in diesem Sinne wohl von unbewußten Vorstellungen sprechen kann; außerdem reiht sich, von den Zeiten tiefen, traumlosen Schlafes abgesehen, eine V. in ununterbrochener Folge an die andre an. Weder die simultane noch die sukzessive Verbindung der Vorstellungen erfolgt nun aber, wie es bei oberflächlicher Betrachtung scheint, regellos und zufällig, sondern unter der Herrschaft zweier Prinzipien: der Ideenassoziation (s. d.) und der Apperzeption (s. d.), und man unterscheidet deswegen assoziative und apperzeptive Vorstellungsverbindungen. Die erstern sind bestimmt durch die innern oder äußern Beziehungen der einzelnen Vorstellungen (ihre Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, die Ordnung ihres erstmaligen Auftretens etc.), diese erscheinen als Resultate einer auf die Vorstellungen gerichteten Tätigkeit des vorstellenden Subjekts, d. h. sie sind bestimmt durch den jeweiligen Gesamtzustand des Bewußtseins, auf den nicht nur die augenblicklich in der Seele vorhandenen Vorstellungen, Gefühle etc. von Einfluß sind, sondern in dem auch alle frühern Erlebnisse in der Form individueller Interessen, Denkgewohnheiten etc. nachwirken. Bei der Schwierigkeit des Gegenstandes ist es jedoch der Psychologie bisher nur gelungen, gewisse allgemeine Regeln, nicht aber strenge, in allen Fällen genau zutreffende Gesetze des Vorstellungsverlaufes (wenn solche überhaupt auf dem Boden des Seelenlebens denkbar sind) festzustellen; neuerdings bemüht sich die experimentelle Psychologie nicht ohne Erfolg durch Feststellung der zeitlichen Verhältnisse des Vorstellens einen Einblick in sein Getriebe zu bekommen. Als leitender Gedanke auf diesem ganzen Gebiet ist vor allem festzuhalten, daß die Vorstellungen nicht selbständige, dauernd in der Seele existierende Objekte, sondern wechselnde Zustände sind, und daß das Spiel der Vorstellungen nicht darauf beruht, daß frühere Vorstellungen nach zeitweiliger Latenz in das Bewußtsein zurückkehren, sondern daß den frühern ähnliche Vorstellungen aufs neue erzeugt werden.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 264-265.
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