Theorīe

[472] Theorīe (griech.), eigentlich das Beschauen, Betrachten, auch das Zuschauen bei einem Schau- und Festspiel und die Beteiligung an einer auswärtigen Festfeier seitens des Staates durch eine Festgesandtschaft, auch die Festgesandtschaft selbst. Solche Gesandtschaften wurden bei den Griechen von den einzelnen Staaten zu den großen Nationalfesten sowie zu den Festen befreundeter Staaten, von den Athenern namentlich zu den Apollofesten in Delos geschickt (vgl. Architheorie). – In der Logik versteht man unter T., im Gegensatz zur Empirie (s. Erfahrung), die Ableitung einer einzelnen Erscheinung (z. B. des Regenbogens) oder einer ganzen Klasse von Erscheinungen (der Lichterscheinungen überhaupt) aus allgemeinen Gesetzen. Hiernach hat jede Tatsache, bez. Tatsachengruppe ihre T., und man unterscheidet demgemäß in vielen Disziplinen (z. B. der Physik) einen empirischen Teil (die Experimentalphysik), in dem es sich um die Feststellung von Tatsachen, und einen theoretischen Teil (die mathematische Physik), in dem es sich um deren Erklärung auf Grund allgemeiner Gesetze handelt. Das Streben der Wissenschaften ist überall darauf gerichtet, die Empirie durch T. zu ergänzen, wobei nötigenfalls in Ermangelung sicher erwiesener Grundgesetze Hypothesen zu Hilfe genommen werden. Im letztern Fall ist natürlich die ganze T. selbst nur von hypothetischem Wert und weicht vielleicht bald einer andern, so daß in der Entwickelung einer Wissenschaft oft eine ganze Reihe von Theorien desselben Gegenstandes aufeinander folgen. Wenn aber deswegen der Empiriker die Leistungen des Theoretikers häufig gering schätzt, so ist doch zu bedenken, daß die T., wenn ihre Grundlagen einmal sicher festgestellt sind, der Empirie weit überlegen ist, indem es ihr oft gelingt, zwischen scheinbar einander ganz fernstehenden Erscheinungen einen Zusammenhang aufzuweisen, zukünftige Erscheinungen vorauszusagen und der Technik neue Mittel und Wege zur Herbeiführung bestimmter Ergebnisse vorzuschreiben. Denn was in einer auf sichern Grundlagen ruhenden T. richtig ist, muß sich auch in der Anwendung bewähren, und von einer Nichtübereinstimmung zwischen T. und Praxis kann höchstens insofern die Rede sein, als es uns nicht immer gelingt, die theoretisch angenommenen Bedingungen einer Erscheinung praktisch zu verwirklichen, bez. Nebeneinflüsse, welche die theoretischen Berechnungen hinfällig machen oder stören, auszuschließen.[472] Die Methode der theoretischen Wissenschaften ist natürlich, da sie vom Allgemeinen zum Besondern gehen, die Deduktion (s. d.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 472-473.
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