Theorie

[500] Theorie (theôria, theoria) eigentlich: Betrachtung, geistiges Schauen, Speculation (s. d.), jetzt: Lehrgebäude, wissenschaftliche, einheitlich-gesetzmäßige Erklärung, Interpretation eines Tatsachencomplexes aus einem Princip (s. d.), (abgeschlossene) Hypothese. Im Gegensatze zur Praxis (s. d.) ist die Theorie das Erkennen als solches.

Die Bedeutung von »speculatio« hat theôria bei ARISTOTELES (Met. XII 7, 1072 b 24). ALBERTUS MAGNUS erklärt: »Theoria lumen est in corporalibus similitudinibus acceptum, quod ducit ad dei cognitionem, quae secundum Hugonem dicitur mundana theologia« (Sum. th. I, 15, 3). – Nach FERGUSON besteht die Theorie in der »Zurückführung einzelner Veränderungen auf die Principien oder allgemeinen Gesetze, unter welchen sie zusammengefaßt werden« (Grdz. d. Moralphilos. S. 6). – Nach FRIES ist Theorie »eine Wissenschaft, in der die Tatsachen in ihrer Unterordnung unter die allgemeinen Gesetze erkannt und ihre Verbindungen aus diesen erklärt werden« (Syst. d. Log. S. 488). Nach ÜBERWEG ist Theorie »die Erklärung der Erscheinungen aus ihren allgemeinen Gesetzen« (Log.4, § 134). Nach WUNDT ist die Theorie »die Hypothese samt der Deduction der Erscheinungen, zu deren Erklärung die Hypothese gemacht[500] wurde« (Log. I, 407). Nach KÜLPE ist »Theorie des Talbestandes« »die vollständige Reflexion über einen Talbestand, die den bestimmten Inhalt desselben darlegt, indem sie auch allen Beziehungen desselben zu anderen Erlebnissen gerecht wird« (Philos. Stud. VII, 397). HUSSERL bestimmt: »Die systematische Einheit der ideal geschlossenen Gesamtheit von Gesetzen, die in einer Grundgesetzlichkeit als auf ihrem letzten Grunde ruhen und aus ihm durch systematische Deduction entspringen, ist die Einheit der systematisch vollendeten Theorie« (Log. Unt. I, 232). Nach E. MACH ist die Theorie eine »indirecte Beschreibung«, d. h. »eine solche Beschreibung, in welcher wir uns gewissermaßen auf eine bereits anderwärts gegebene oder auch erst genauer auszuführende berufen« (Wärmelehre2, S. 398). Als Endziel der Forschung ist die Theorie eine »vollständige systematische Darstellung der Tatsachen« (l. c. S. 461. vgl. Üb. d. Princ. d. Vergleich. in d. Phys. 1894, S. 6 ff.). H. CORNELIUS erklärt: »Die allgemeine begriffliche Formulierung der Zusammenhänge, die... als notwendige und hinreichende Bedingung für die Erklärung eines Jeden bestimmten Erscheinungsgebietes zu betrachten ist, bezeichnen wir als Theorie der betreffenden Klasse von Erscheinungen.« »Je nachdem eine solche Theorie auf Grund wissenschaftlicher Bemühung als Ergebnis zielbewußten Klarheitsstrebens oder auf Grund der vorwissenschaftlichen Entwicklung des Denkens zustande kommt, wollen wir sie als eine wissenschaftliche oder aber als eine natürliche Theorie unserer Erfahrungen bezeichnen« (Einl. in d. Philos. S. 33). Vgl. Hypothese.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 500-501.
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