Tatsache

[483] Tatsache (res facti, factum, fait, matter of fact: »Tatsache« zuerst bei HERDER) ist das, was durch das Denken sicher als Erfahrungsinhalt, als Bestandteil der gesetzlichen Ordnung der Dinge und Ereignisse feststeht. Die »Tatsachen« als solche sind nicht einfach »gegeben«, sondern müssen erst auf Grund der Erfahrung methodisch-denkend gesetzt, constatiert werden. daher der häufige Streit, was als Tatsache zu betrachten sei, was nicht. Der (sensualistische) Empirismus (s. d.) hält die »Tatsachen der Erfahrung« für schlechthin gegeben, der Kriticismus hingegen betont, daß erst das Denken (Urteilen) es ist, welches (auf Grund von Erlebnissen) bestimmte Tateschen als solche statuiert.

Nach KANT sind Tatsachen »Gegenstände für Begriffe, deren objective Realität (es sei durch reine Vernunft oder durch Erfahrung und, im ersteren Falle, aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen correspondierenden Anschauung) bewiesen werden kann« (Krit. d, Urt. II, § 91). Nach SCHELLING ist die wahre Tatsache »jederzeit[483] etwas Innerliches«. »Das geschichtlich Erste in der Philosophie, ihr geschichtlich erstes Bestreben wird also nur eben dahin gehen können, das, was an der Welt die eigentliche, die reine Tatsache ist, zu erforschen« (WW. I 10, 228). – COMTE unterscheidet abstracte Tatsachen (Gesetze) und concrete (Dinge).

Nach WITTE wird, was Tatsache ist, durch das Denken entschieden (Wes. d. Seele S. 107). Das ist die Ansicht besonders der Kantianer. Nach NATORP ist die Tatsache der Erfahrung nicht das Erstgegebene der Erkenntnis, sondern das letzte, das sie erreichen kann, ja eigentlich nie schlechthin erreicht. Alle besonderen Bestimmungen des Gegebenen sind Denkbestimmungen (Socialpäd. S. 25). H. COHEN bemerkt: »Wenn A und B gesetzt sind, so nenne ich dasjenige Verhältnis unter ihnen Tatsache, welches für den Zusammenhang von A und B auf Wahrnehmung beruht.« Sie ist von der Realität verschieden (Princ. d. Infin. S. 27). Nach P. STERN darf man die sogen. Bewußtseinstatsachen »nicht zu selbständigen Dingen, zu stille haltenden Gegenständen machen wollen« (Probl. d. Gegebenh. S. 4). Die »Tatsachen« (Gedanken und Dinge) sind nicht letzte Gegebenheiten für das wissenschaftliche Denken (l. c. S. 7). Gegenstände und Tatsachen sind keine »Gegebenheiten« (l. c. S. 8 ff.). »Von den empirisch Gegebenen aus sucht das Denken vorzudringen zu den Gegebenheiten im Sinne des schlechthin Anzuerkennenden und Unableitbaren, zu den Methoden der wissenschaftlichen Construction des Realen mit ihren Formen, Voraussetzungen, Materialien« (l. c. S. 76. vgl. WUNDT, Philos. Stud. XIII, 91 ff.). – Nach GREEN besteht jede Tatsache aus Beziehungen zu andern Tatsachen in einer zusammenhängenden Erfahrung. Nach SCHUPPE wirkt stets neben dem Gesetz, welches Qualitäten vereint oder ausschließt, eine Tatsache mit, welche immer wieder auf vorhergehende Tatsachen hinweist. Eine letzte hypothetische Tatsache ist relativ »ursprüngliche« Tatsache. alles, was auf ihr beruht, ist »Notwendigkeit aus der ursprünglichen Tatsache«. »Alles wirkliche geschehen setzt sich aus dieser und der gesetzlichen Notwendigkeit zusammen« (Log. S. 66). Vgl. Wahrheit, Realität.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 483-484.
Lizenz:
Faksimiles:
483 | 484
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika