Grund

[413] Grund (logos, ratio) ist ein Gedanke, insofern er uns zur Anerkennung, Setzung eines anderen, von ihm abhängigen, aus ihm folgenden Gedankens (»Folge«, consecutio) nötigt, logisch determiniert. Der »Satz vom Grunde« (s. unten) besagt, daß wir zusammenhängend, folgerichtig denken müssen. d.h. daß jedes Urteil, um als gültig anerkannt zu werden, ein gültiges Urteil voraussetzt. Alle Erkenntnisgründe führen schließlich auf logische Denkgesetze[413] (s. d.) und auf die Anschauung zurück. Erkenntnisgrund ist der Gedanke, die Erkenntnis, aus der ein anderer Gedanke, eine andere Erkenntnis abgeleitet wird. Seinsgrund ist jedes Princip, aus dem die Existenz eines Dinges oder Geschehene ableitbar ist. Jeder Grund beantwortet die (dem Denken und Denken-wollen ursprünglich eigene) Frage nach dem »Warum«, nach der Motivation und Determination eines Geschehens. Eine logische Regel ist: Mit dem Grunde ist die Folge gesetzt, mit der Folge der Grund aufgehoben (»Posita ratione ponitur rationatum«).

Bis auf Leibniz werden Erkenntnis- und Seinsgrund meist nicht recht auseinander gehalten. So bei ARISTOTELES: epistasthai de oiometha hekaston haplôs, hotan tên aitian oiometha ginôskein, di' hên to pragma estin, hoti ekeinou aitia esti kai mê endechesthai touto allôs einai (Anal. post. I, 2). Die Skeptiker sprechen von der isostheneia tôn logôn, von der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten (Beweis-) Gründe, so daß es keinen wahren Widerspruch gebe (ouk estin antilogia), da kein Grund mehr gelte (ou mallon) als ein anderer (SEXTUS EMPIRICUS Pyrrhon. hypot. I, 12, 202 squ.). – Nach WILHELM VON CQNCHES ist »Grund« (ratio) »certum et firmum iudicium de re corporea« (bei HAURÉAU I, p. 445). DESCARTES (»causa sive ratio«) und SPINOZA unterscheiden Real- und Seinsgrund nicht genügend. Den Begriff einer »zureichenden Ursache« kennt HOBBES: »I hold to be a suffcient cause, to which nothing is wanting that is needfull to the producing of the effect. The same is also a necessary cause« (Quaest. de libert. 1750, p. 483). LEIBNIZ unterscheidet schon zwischen »raison« und »cause«; der »Grund« ist Ursache des Urteils, der Wahrheit, ihm entspricht in den Dingen die Ursache (Nouv. Ess. IV, ch. XVII, § 1). Alles muß seinen zureichenden Grund (s. unten) haben. Nach CHR. WOLF ist Grund »dasjenige, wodurch man verstehen kann, warum etwas ist« (Vern. Ged. I, § 29). »Wo etwas vorhanden ist, woraus man begreifen kann, warum es ist, dies hat einen zureichenden Grund« (l.c. § 30). »Per rationem sufficientem intelligo id, unde intelligitur, cur aliquid fit« (Ontol. § 56). Zu unterscheiden sind »principium fiendi (ratio actualitatis alterius)«, »principium essendi (ratio possibilitatis alterius)« und »principium cognoscendi« (Ontol. § 876, 881 ff.). BAUMGARTEN erklärt: »Ratio est, ex quo cognoscibile est, cur aliquid sit« (Met. § 14). REIMARUS unterscheidet innern und äußern Grund (Vernunftlehre § 81). CRUSIUS bemerkt: »Alles dasjenige, was etwas anderes ganz oder zum Teil hervorbringt,... heißt Grund oder Ursache im weiteren Verstande« (Vernunftwahrh. § 34). Erkenntnis- und Realgrund sind zu unterscheiden (ib.; Dissertatio philos. de usu et limitib. princip. orat. determin. 1743). MENDELSSOHN versteht unter Grund »das Merkmal in der Ursache, aus welchem sich die Wirkung folgern läßt« (Morgenst. I, 2). Nach FEDER ist »Grund« »derjenige Umstand, diejenige Bestimmung, wovon das andere, das Gegründete herkommt« (Log. u. Met. S. 255). Der »vollständige« Grund ist die »Sammlung alles dessen, was einen Einfluß gehabt, zu dem Effect etwas beigetragen hat« (l.c. S. 257). Zu unterscheiden sind »Realgrund« und »Erkenntnisgrund« (»Idealgrund,« »logischer« Grund), endlich »Bewegungsgrund« (1. e. S. 259). Nach PLATNER ist ein Grund das, »woraus erkannt wird, daß etwas ist, so und nicht anders ist« (Philos. Aphor. I, § 826). »Nun erkennt man aus den Bestandteilen eines Dinges, als aus seinen Merkmalen, was es ist, und zugleich auch warum es ist und warum es das ist, was es ist: folglich sind die Bestandideen eines Begriffes oder Dinges seine Bestimmungen und zugleich sein Grund; in der Verbindung untereinander[414] der zureichende, bestimmende Grund« (l.c. § 827). Mit dem Grunde wird die Folge gesetzt bezw. aufgehoben (l.c. § 829).

Entschieden trennt den »logischen« Grund vom »Realgrund«, der Ursache, KANT (WW. II, 104 f.). Der Realgrund ist niemals ein logischer Grund (ib.). »Ratio« ist, »quod determinat subiectum respectu praedicati cuiusdam« (Pr. prim. cogn. met. sct. II, prop. IV). Der Grund der Wahrheit ist nicht der Grund der Wirklichkeit (l.c. sct. II, prop. VIII). Nach S. MAIMON wird »Grund« »bloß von der Erkenntnis, nicht aber vom Dasein eines Dinges gebraucht; es bedeutet... eine vorher erlangte Erkenntnis, als Bedingung einer neuen Erkenntnis betrachtet« (Vers. üb. d. Tr. S. 107). Ähnlich KIESEWETTER (Log. I, 16) und G. E. SCHULZE (Allg. Log. § 19). Nach FRIES ist Grund »ein Urteil, unter dessen Bedingung ein anderes behauptet wird« (Syst. d. Log. S. 136).

J. G. FICHTE bemerkt: »Jedes Entgegengesetzte ist seinem Entgegengesetzten in einem Merkmale = x gleich; und: jedes Gleiche ist seinem Gleichen in einem Merkmal = x entgegengesetzt. Ein solches Merkmal = z heißt der Grund, im ersten Fall der Beziehungs-, im zweiten der Unterscheidungs-Grund« (Gr. d. g. Wiss. S. 29). HEGEL faßt den »Grund« als Moment der dialektischen (s. d.) Bewegung des »Begriffs« (s. d.) auf. Der »Grund« ist »die reale Vermittlung des Wesens mit sich« (Log. II, 75), »die Einheit der Identität und des Unterschieds; die Wahrheit dessen, als was sich der Unterschied und die Identität ergeben hat – die Reflexion-in-sich, die ebensosehr Reflexion-in-anderes und umgekehrt ist. Er ist das Wesen als Totalität gesetzt« (Encykl. §121). Nach K. ROSENKRANZ ist das Wesen der Grund »als die negative Identität des Entgegengesetzten« (Syst. d. Wiss. S. 56). Vom »formellen« und »reellen« ist der »vollständige« Grund zu unterscheiden, der das Wesen selber ist (l.c. S. 56 f.). BACHMANN: »Der Grund ist das, dessen Gesetztsein ein anderes unwiderstehlich nachzieht; Folge aber, das nur gesetzt ist, weil jenes gesetzt ist« (Syst. d. Log. 63. 131 ff.). Ähnlich andere Logiker.

VOLKELT nennt Erkenntnisgrund »diejenige Ursache, die das Bewußtsein der sachlichen Notwendigkeit entspringen läßt« (Erfahr. u. Denk. S. 215). Nach SIGWART ist Grund »dasjenige, was ein Urteil notwendig macht« (Log. I2, 246); nach B. ERDMANN der »Inbegriff der Urteile, aus denen der zu beweisende Satz, die Folge, denknotwendig ableitbar ist« (Log. I, 296); nach RIEHL der »Inbegriff aller coëxistierenden Bedingungen« (Phil. Krit. II, 1, 267), als »dasjenige an der Ursache, woraus die Wirkung begreiflich wird« (l.c. II, 2, 307). Den logischen Charakter der Begriffe Grund und Folge betont WUNDT (Log. I2, S. 561 ff.).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 413-415.
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