Wirklichkeit

[788] Wirklichkeit (actualitas, realitas) bedeutet 1) gegenüber der bloßen Möglichkeit (s. d.): die Actualität, das gegenwärtige Sein, Wirken, Ausgewirkte, Verwirklichte. 2) im Gegensatz zum Schein (s. d.), zum Eingebildeten, bloß Vorgestellten, Bildlichen, Vermeinten: den Charakter des mit Recht als seiend, wesenhaft, dinglich, eigenschaftlich, zuständlich Beurteilten, bezw. den Inbegriff des wahrhaft Seienden selbst. Ursprünglich gilt alles (implicite) als wirklich, der Begriff der Wirklichkeit wird aber erst gebildet durch die Gegenüberstellung des wahrhaft und des vermeintlich, scheinbar Seienden. »Wirklich« ist alles Wirkungsfähige, den Inhalt einer (möglichen) Erfahrung bildende oder als seiend denkend Gesetzte. Indem man erkennt, daß die Objecte (s. d.) in ihrer Beschaffenheit subjectiv bedingt sind, verwandelt sich deren Wirklichkeit in eine bloß mittelbare, relative, während das Ich (s. d.) als solches unmittelbare Wirklichkeit behält und eine absolute Wirklichkeit den »transcendenten Factoren« (s. d.) zugeschrieben wird. Von der subjectiven Wirklichkeit der individuellen Erlebnisse unterscheiden sich die gesetzmäßigen Zusammenhänge möglicher (äußerer) Erfahrungsinhalte durch ihre objective (s. d.) Wirklichkeit (s. Realität).

Von fundamentaler Bedeutung ist die Unterscheidung der Potentialität (s. d.) und Actualität (s. Energie) bei ARISTOTELES. Mit der Körperlichkeit (s. d.) identificieren die Wirklichkeit die Stoiker und Epikureer (Diog. L. X, 67). – Die Scholastiker sprechen von »actualitas«, »actus« im Aristotelischen Sinne (s. Realität, Actus).

Während der Realismus (s. d.) das Wirkliche als unabhängig vom Bewußtsein bestimmt, setzt der Idealismus (s. d.) alle Wirklichkeit innerhalb des (endlichen und unendlichen, subjectiven und objectiven) Bewußtseins (s. Object, Realität). So BERKELEY (s. Object, Ding). HUME erklärt: »Der Inhalt einer Erinnerung muß zweifellos, da er auf den Geist mit einer Lebhaftigkeit einwirkt, die der des unmittelbaren Eindrucks gleicht, in unseren geistigen Vorgängen jederzeit besonderes Gewicht haben und sich dadurch leicht von bloßen Phantasiebildern unterscheiden. Die Eindrücke oder Vorstellungen der Erinnerungen nun vereinigen wir zu einer Art von System, das alles umfaßt, von dem unsere Erinnerung sagt, daß es uns einmal, sei es als innere Perception, sei es als Sinneseindruck, gegenwärtig war. und alles, was diesem System angehört, zusammen mit den jetzt in uns gegenwärtigen Eindrücken, belieben wir als Wirklichkeit zu bezeichnen. Dabei bleibt unser Geist indessen nicht stehen. Mit diesem System von Perceptionen sind durch die Gewohnheit oder, was dasselbe sagt, durch die Beziehung von Ursache und Wirkung anderweitige Vorstellungen verknüpft. Vermöge dieser Verknüpfung wendet der Geist dann auch diesen letzteren seine Tätigkeit zu, und da er dabei inne wird, daß für ihn eine Art Notwendigkeit besteht, gerade diesen Vorstellungen sich zuzuwenden, daß die Gewohnheit oder die causale Beziehung, die ihn dazu zwingt, jede Veränderung (in der Richtung, die sie dem Vorstellen aufnötigt) ausschließt, so faßt er diese Vorstellungen in ein neues System zusammen, das er gleichfalls mit dem Namen Wirklichkeit beehrt. Das erste dieser Systeme ist der Gegenstand der Erinnerung und der Sinne, das zweite ist der Gegenstand des Urteilsvermögens« (Treat. III, sct. 9, S. 147 f.. vgl. damit KANTS Realitätsbegriff, s. d. und unten).

Nach CHR. WOLF ist wirklich, »was in dem Zusammenhang der Dinge, welcher die gegenwärtige Welt ausmachet, gegründet ist« (Vern. Ged. I, § 572). Wirklichkeit ist »Erfüllung des Möglichen« (l. c. §14). MENDELSSOHN erklärt:[788] »Das erste, von dessen Wirklichkeit ich überführt bin, sind meine Gedanken und Vorstellungen. Ich schreibe ihnen eine ideale Wirklichkeit zu, insoweit sie meinem Innern beiwohnen und als Abänderungen meines Denkvermögens von mir wahrgenommen werden. Jede Abänderung setzet etwas zum voraus, das abgeändert wird. Ich selbst also, das Subject dieser Abänderung, habe eine Wirklichkeit, die nicht bloß ideal, sondern real ist.« »Wir haben hier also die Quelle einer zwiefachen Wirklichkeit: die Wirklichkeit der Vorstellungen und die Wirklichkeit des vorstellenden Dinges« (Morgenst. I, 1, S. 12 ff.). Für die objective Wirklichkeit einer Sache bietet Bürgschaft das Übereinstimmen der Sinne und der Mitmenschen (l. c. S. 15 f.). TETENS bestimmt: »Das Wirkliche ist etwas Objectivisches, ein Gegenstand, etwas, das von der Empfindung und Vorstellung unterschieden ist« (Philos. Vers. I, 395). Daß »Wirklichkeit« (Existenz) undefinierbar sei, betont FEDER (Log. u. Met. S. 228).

KANT nennt »wirklich« alles, »was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt« (Krit. d. rein. Vern. S. 203), alles Erfahrbare oder mit Wahrnehmungen gesetzmäßig zu Verknüpfende. Das Dasein der Dinge hängt mit unseren Wahrnehmungen in einer »möglichen Erfahrung« zusammen (l. c. S. 206 f.. s. Sein, Realität). »Alle äußere Wahrnehmung also beweiset unmittelbar etwas Wirkliches im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst« (l. c. S. 316). »Das Reale äußerer Erscheinungen ist... wirklich nur in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirklich sein« (l. c. S. 318), wegen der Subjectivität des Raumes (s. d.) und der Kategorien (s. d.). »Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgend einer wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen« (l. c. S. 206 f.). KRUG erklärt: »Wirklichkeit kündigt sich nur durch Wirksamkeit an« (Fundamentalphilos. S. 134) – Nach BOUTERWEK ist Wirklichkeit der »Inbegriff alles dessen..., was zum Dasein gehört oder eine Folge des Daseins ist« (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 119). Es unterscheidet sich das Wirkliche vom bloß Gedachten (ib.). Das Ideale ist das »Übersinnlich-wirkliche« (l. c. S. 120). Das Absolute ist das »Urwirkliche« (ib.). ANCILLON bemerkt: »Die Anschauungen -nämlich die äußern – sind von inniger Überzeugung der Wirklichkeit der sinnlichen Welt begleitet, von einem wahren Glauben... an die Existenx dieser Welt. ein Glaube, der uns angeboren ist« (Glaub. u. Wiss. in d. Philos. S. 61).

Nach J. G. FICHTE ist Wirklichkeit »Wahrnehmbarkeit, Empfindbarkeit« (Syst. d. Sittenlehre S. 95. vgl. Gr. d. g. Wissensch. S. 414). SCHELLING erklärt: »Nichts... ist für uns wirklich, als was uns, ohne alle Vermittlung durch Begriffe, ohne alles Bewußtsein unserer Freiheit, unmittelbar gegeben ist« (Naturphilos. I, 303). »Nur einer freien Tätigkeit in mir gegenüber nimmt, was frei auf mich wirkt, die Eigenschaften der Wirklichkeit an« (l. c. S. 305) Nach HEGEL ist die Wirklichkeit eine ontologische Kategorie. Sie ist »die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz, oder des Innern und Äußern« (Encykl. § 142. Log. II, 184). Wirklichkeit ist höher als Sein und Existenz (Log. II, 200). Die Wirklichkeit ist 1) das Absolute, 2) eigentliche Wirklichkeit, 3) Substanz (l. c. II, 185). Reale Wirklichkeit ist zunächst die existierende Welt (l. c. S. 208). Das Wirkliche ist »das Sich-selbst-setzende[789] und In-sich-lebende, des Dasein in seinem Begriffe« (Phänomenol. S. 36). »Das Geistige allein ist das Wirkliche« (l. c. S. 19). Alles Wirkliche ist als solches vernünftig, alles Vernünftige wirklich (Rechtsphilos., Vorr. S. 17. s. Vernunft, Panlogismus, Idee). Nach K. ROSENKRANZ ist die Wirklichkeit die »Einheit des Innern mit dem Äußern« (Syst. d. Wissensch. S. 75). Die Wirklichkeit ist »1) unmittelbar die reale als die Einheit des Wesens und seiner Erscheinung. 2) die formale, als die Unterscheidung des Wesens von seiner Erscheinung mit der Beziehung von jenem zum Übergang in diese. 3) die absolute als die sich selbst vermittelnde Einheit des Wesens mit seiner Erscheinung, welche die Möglichkeit des Unterschiedes von sich ausschließt« (1. 0. S. 75 ff.).

Nach HILLEBRAND ist Wirklichkeit »das Sein, insofern es sich selbst als Einheit seines Unterschiedes setzt«, »die Positivität der absolut gegenwärtigen Realität«, »die Auflösung der Kraft in das Wirken« (Philos. d. Geist. II, 58 f.). Nach CHR. KRAUSE ist das Wirkliche das, »was in vollendeter Bestimmtheit in der Zeit gestaltet wird« (Vorles. S. 127 f.), »was in der Zeit erwirket und wirksam ist« (Abr. d. Rechtsphilos. S. 2. vgl. AHRENS, Naturrecht I, 248). Nach C. H. WEISSE ist Wirklichkeit »Ursachlichkeit«. »Nicht also in dem Setzen des Daseins durch sein Wesen oder seine substantielle Möglichkeit überhaupt, sondern in dem Setzen bestimmten Daseins durch anderes gleichfalls schon bestimmtes Dasein besteht, was wir die Wirklichkeit nennen« (Grdz. d. Metaphys. S. 436). Die Wirklichkeit besteht im »Processe der Causalreihe« (l. c. S. 441). Die wahre Wirklichkeit ist »das Wirken der einen Substanz auf die andere«. »Wirklich ist nur, was wirkt.« Die Wirklichkeit ist die »Totalität des Seienden« (l. c. S. 448 f.). Was der Verstand für Wirklichkeit nimmt, ist die gemeine Wirklichkeit. die wahre Wirklichkeit ist die vernünftige, d.h. die kategorial richtig bestimmte (l. c. S. 449). Auch SCHOPENHAUER bestimmt Wirklichkeit als Inbegriff alles Wirksamen (W. a. W. u. V. I. Bd., § 4). ULRICI erklärt: »Wirklich ist alles, was mit dem Eintreten der Bedingungen, durch das Übergehen der Vermögen in Wirksamkeit und die damit erfolgende Aufhebung der realen Möglichkeit als Wirkung jener Wirksamkeit entsteht« (Log. S. 393). LOTZE nennt wirklich »ein Ding, welches ist, im Gegensatz zu einem, welches nicht ist. wirklich auch ein Ereignis, welches geschieht oder geschehen ist..., ein Verhältnis, welches besteht« (Log.2, S. 511 f.). Der Gedanke der Wirklichkeit enthält eine Bejahung (ib.. vgl. Grdz. d. Met. S. 9). Alles Reale ist an sich Geist (Mikrok. III2, 527), »Für-sich-sein« (l. c. S. 531). Die Realität ist »das Dasein des Für-sich-seienden« (l. c. S. 531 f.). Nach TEICHMÜLLER ist die Wirklichkeit 1) der Inbegriff der Wesen. »Die Wesen heißen wirklich, sofern sie nicht bloß einen Gedankeninhalt für einen Denkenden bilden« (Neue Grundleg. S. 116). 2) ist Wirklichkeit »jede Function..., welche dem Bewußtsein der Gegenwart angehört oder damit zusammenhängt« (l. c. S. 117). Die Wirklichkeit ist »das ganze durch alle Zeiten reichende technische System aller Functionen der Wesen« (l. c. S. 119 ff.). Nach E. V. HARTMANN gibt es in der »für sich isolierten subjectiv idealen Sphäre« »weder Wirklichkeit, noch Notwendigkeit noch Möglichkeit, sondern nur eine geglaubte Möglichkeit in doppeltem Sinne, als formallogische und als dynamische« (Kategorienlehre, S. 348). »Die Wirklichkeit in der objectiv realen Sphäre oder das objectiv reale Sein ist das Wirken, oder die dynamisch-thelistische Function einschließlich ihrer logisch determinierten Gesetzmäßigkeit« (l. c. S. 349). In der metaphysischen Sphäre fällt die Kategorie[790] der Wirklichkeit fort. Das Sein der Principien im Wesen ist ein überwirkliches (l. c. E3. 356 ff.).

Als Inbegriff des Wirksamen bestimmt die Wirklichkeit DILTHEY (Einl. in d. Geisteswiss. I, 469. 6. Object). RIEHL erklärt: »Nur, was fähig ist, zu wirken, ist und heißt wirklich.« »Zu dem Mechanismus der äußeren Erscheinung liefert die innere Erfahrung die Ergänzung. sie zeigt uns Vorgänge, die nicht bloß bewirkt, sondern auch selbst wirkend sind« (Philos. Krit. II 2, 195). Die Außenwelt müssen wir nach Analogie mit unserem eigenen Wesen erfassen (l. c. S. 319. vgl. II 1, 277). Wirklichsein heißt auch »in den Zusammenhang der Wahrnehmungen gehören« (Beitr. zur Log., Vierteljahreschr. f. wiss. Philos. 16. Bd., S. 134). »Es ist dieselbe Wirklichkeit, aus der unsere Sinne stammen und die Dinge, die auf unsere Sinne wirken. Die nämliche schaffende Macht, die schon in den einfachsten Dingen am Werke ist, setzt ihr Werk in uns durch uns fort. Sie ist die gemeinsame Quelle von Natur und Verstand. Sie hat den Dingen ihre begreifliche Form gegeben und uns das Vermögen, zu begreifen. So stiftete sie zwischen den Natur- und Denkgesetzen jene Harmonie, welche im einzelnen zu vernehmen Ziel und Lohn aller Forschung ist. Aber nur bis zur Voraussetzung dieser Einheit dringt unser Denken. Sie selbst in ihrem Wesen bleibt transcendent. Das Geheimnis des Daseins ist durch das Denken nicht zu ergründen. das Princip des Daseins geht dem Denken voran. erst Sein, dann Denken« (Zur Einf. in d. Philos. S. 167 f.). M. PALÁGYI erklärt: »In der directen Besinnung haben wir das Ewige als Wirkliches, in der conträren Besinnung haben wir das Ewige als Begriff« (Log. auf dem Scheidewege, S. 251). Das Ewige selbst ist die Einheit der Wirklichkeit und des Begrifflichen, Wahren. wir Wissen von dieser Einheit, nicht aber diese Einheit selbst (l. c. S. 252 f.). Nach HÖFFDING ist wirklich, »was wir trotz allem Widerstreben zuletzt doch stehen lassen müssen, wie es ist – was anzuerkennen wir nicht umhin können« (Psychol. S. 288). Das Kriterium der Wirklichkeit ist »in zweifelhaften Fällen schließlich immer der feste, unzertrennliche Zusammenhang« (Philos. Probl. S. 36 f.). Nach PLANCK ist objective Wirklichkeit das »Gegenteil der bloßen Gedankeneinheit« (Testam. ein. Deutsch. S. 57 f.). Nur im Zusammen des aneinander grenzenden Unterschiedes oder Außereinanders ist Realität (l. c. S. 61). Nach B. ERDMANN ist das Wirkliche »das Vorgestellte, sofern es auf das Transcendente bezogen wird« (Log. I, 10). Wirklichkeit hat derjenige Gegenstand, »dem im Transcendenten ein Substrat oder, einfacher, wenn schon unsicherer, ein transcendentes Substrat entspricht« (l. c. S. 83). »Das von uns verschiedene Wirkliche ist... das von unserem Willen unabhängig Wirksame«. »Als so Leidende und in diesem Leiden uns selbst Erhaltende werden wir uns unserer eigenen Wirklichkeit bewußt und setzen dem entsprechend den Objecten oder Gegenständen im eigentlichsten Sinne des Wortes, d. i. dem Nicht-Ich als ihrem Inbegriff, unser eigenes Ich entgegen. Durch unsern Willen also, in dem wir uns als Ursachen, beziehungsweise als Gegenursachen bewußt werden, finden wir uns selbst in letztem Grunde als wirklich« (l. c. S. 83 f.). »Wirklichsein überhaupt würde sich danach als Wirksamsein ergeben, oder als Wirken« (l. c. S. 84). E. DÜHRING versteht unter dem Wirklichen das sinnlich, raumzeitlich Gegebene, Erfaßbare, Materielle (Curs. S. 13. s. Wirklichkeitsphilosophie).

Nach J. BERGMANN ist Wirklichkeit »die Bestätigung, welche wir zu der Setzung eines Gedachten als eines Seienden hinzutun, während das Seiende das[791] Gesetzte selbst bedeutet« (Sein u. Erk. S. 111. vgl. S. 10 f.). Nach G. SIMMEL ist Wirklichkeit »nichts, was außerhalb der Vorstellungen derart existierte, daß diese nun erst in jene versetzt würden. sondern eine gewisse psychologische Qualität der Vorstellungen wird dadurch bezeichnet, daß wir diese wirkliche nennen« (Einl. in d. Moralwiss. I, 6). LIPPS erklärt: »Das Bewußtsein der Wirklichkeit, dies heißt das Bewußtsein haben, ein Vorstellen sei notwendig, müsse oder solle sein« (Grundtats. d. Seelenleb. S. 397). Das Gefühl des Zwanges macht die Empfindung zu einem Wirklichen. Das Wirklichkeitsbewußtsein besteht in »Gefühl des Widerstandes, das sich dann in uns einstellt, wenn unser freier Vorstellungsverlauf einem übermächtigen Vorstellungsgeschehen begegnet« (l. c. S. 397). Es sind die »zeitlich-räumlichen Beziehungen, die der Vorstellung die zwingende Kraft verleihen« (l. c. S. 398. vgl. S. 438 ff). EHRENFELS erklärt: »Wenn ich irgend eine Begebenheit... als wirklich denke, so stelle ich mir vor, daß sie selbst oder ihre Nachwirkungen mit den meinigen in Contact gekommen sind oder kommen werden: – kurz ich verflechte sie (immer nur in der Vorstellung) in das causale Gewebe, in welchem ich selbst mich befinde. Ähnlich schalte ich sie aus diesem Gewebe aus, wenn ich sie als nicht wirklich zur Vorstellung bringe. bei der schlechthinigen Vorstellung dagegen, bei welcher ich... auf Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit gar nicht achte, ziehe ich auch jenes Causalgewebe gar nicht in Betracht« (Syst. d. Werttheor. I, 204. vgl. KOCH unter »Object«).

Nach DEUSSEN ist (empirisches) Wirklichsein das »durch die Sinne vorgestellt werden können« (Elem. d. Met. § 76). K. LASSWITZ versteht unter objectiver Wirklichkeit den »Complex räumlich-zeitlicher Empfindungen, welcher einer gesetzlichen Bestimmbarkeit unterliegt« (Gesch. d. Atomist. I, 80). Aber »der Bewußtseinsinhalt eines Ich, eines Individuums, ist niemals der Weltinhalt, sondern nur ein mangelhaft bestimmbares Bruchstück des Ganzen« (Wirkl. S. 137). Die Natur ist nicht die einzige Realität, es gibt Bedingungen anderer Wirklichkeiten, einer sittlichen Welt, einer »Welt der Werte« (Relig. u. Naturwiss. S. 13 ff.). Ferner: »Die Natur ist allerdings eine selbständige Realität in Raum und Zeit, aber diese Realität besteht in Gesetzen, die nicht wieder aus Raum und Zeit stammen, sondern es erst ermöglichen, daß wir sie in Raum und Zeit als wirksam auffinden« (l. c. S. 13). Nach FR. SCHULTZE ist subjectiv-wirklich »alles Erfahrene, d.h. alles in Zeit, Raum und causaler Verknüpfung Empfundene« (Philos. d. Nat. II, 345). Objectiv-wirklich (wahr) ist »dasjenige, welches in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des kritischen Empirismus und insofern streng wissenschaftlich bewiesen werden kann und die Möglichkeit jedes Zweifels ausschließt« (l. c. S. 345). Nach E. KOENIG ist objective Wirklichkeit ein beständig sich modificierender Bewußtseinsinhalt, die volle, wahre Wirklichkeit ist ein Idealbegriff (Üb. d. letzten Fragen d. Erk., Zeitschr. f. Philos. 103. Bd., 59). Nach HUSSERL bedeutet »wirklich« nicht außerbewußt, sondern »nicht bloß vermeintlich« (Log. Unters. II, 715). – Nach M. KAUFFMANN ist Wirklichkeit »Vorhandensein in der anschaulichen Welt« (Fund. d. Erk. S. 28). Nach SCHUPPE ist das Wirkliche »der mit Qualitäten erfüllte Raum- und Zeitteil« (Zeitsehr. f. imman. Philos. I, 42). Zunächst ist das Wirkliche »die Sinneswahrnehmung, d. i der räumlich-zeitliche Wahrnehmungsinhalt selbst, nichts Übersinnliches, was ihr oder ihm als bloßem Scheine zugrunde läge« (Log. S. 34). »Der Gegensatz des bloßen Gedankendinges zum Wirklichen ist falsch. nur das Phantasieproduct stände in diesem Gegensatz zum Wirklichen,[792] Das Abstracte ist Bestandteil des Wirklichen« (l. c. S. 92). »Wirklich (sc. objectiv) ist nichts, was nicht in den Zusammenhang des Weltganzen paßt« (l. c. S. 173).

Ale wahre Wirklichkeit bestimmen Spiritualisten (s. d.) und objective Idealisten (s. d.) den Geist, das Geistesleben. So ist nach G. CLASS das Geistesleben (im Unterschiede auch vom bloß Psychischen) das wahrhaft Seiende (Unters. zur Phänomenol. u. Ontolog. des menschl. Geist. 1896). Ähnlich lehrt R. EUCKEN. Wirklichkeit ist ein Product des Tuns (Kampf um ein. geist. Lebensinh. S. 49 ff.), ist, absolut, Geistesleben (ib.). Das absolute geistige Leben »muß bei sich selbst stehen und aus sich selbst ein Sein entwickeln, in sich selbst Sein tragen und damit ein Bei-sich-selbst-sein werden« (Warheitsgeh. d. Relig. S. 182). Nach H. MÜNSTERBERG ist die absolute Wirklichkeit mehr als ein System physischer und psychischer Objecte, nämlich ein System von Absichten, Zwecken, »Selbststellungen« (Grdz. d. Psychol. I, 14 ff.). Als geistig bestimmen die absolute Wirklichkeit in verschiedener Weise E. v. HARTMANN, WUNDT, J. BERGMANN, L. BUSSE, RENOUVIER, BOSTRÖM, BRADLEY, GREEN u. a. (g. Spiritualismus, Idealismus). Nach BBADLEY ist das Wirkliche (»the real«) »self-existent, individual«, die Begriffe (»ideas«) hingegen sind »general and adjectival«. »No idea can be real.« Das »particular phenomenon, the momentary appearence, is not individual, and is not the subject which we use in judgment« (Log. I, 2, § 4 ff., § 10). – Als das einzige Wirkliche in der physischen Welt betrachtet OSTWALD die Energie (Energet.2, S. 41). – Vgl. BRANISS, Syst. d. Met. S. 286 ff. – Vgl. Realität, Object, Sein, Wahrheit, Realismus, Idealismus, Spiritualismus, Materialismus, Monismus, Dualismus, Identitätslehre, Erscheinung, Ding an sich, Positivismus.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 788-793.
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