Gefühl

[453] Gefühl, im abstrakten Sinne die Eigenschaft des Subjekts, durch den Inhalt seiner Wahrnehmungen und Vorstellungen irgendwie (z. B. angenehm oder unangenehm) berührt zu werden, die in der Regel dem Vorstellen und Wollen als drittes Grundvermögen der Seele an die Seite gestellt wird; im konkreten Sinn ist G. jeder einzelne derartige Zustand (wie Behagen, Mißbehagen, Freude, Spannung etc.). Empfindung (s.d.) und G. sind also nicht dasselbe, obwohl häufig durch einen ungenauen Sprachgebrauch Empfindungen, hauptsächlich die des Tastsinns, auch als Gefühle bezeichnet werden; beide Begriffe unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß die Empfindung (das Grundelement aller Vorstellungen) jederzeit auf einen äußern Gegenstand bezogen wird, während das G. etwas ausschließlich Inneres, Subjektives ist. Dem entspricht, daß die Beschaffenheit und der Verlauf unsrer Empfindungen wesentlich durch äußere Ursachen bestimmt wird, während das Spiel der Gefühle durch äußere Umstände zwar angeregt, der Hauptsache nach aber durch die ganze Naturanlage und die jeweilige seelische Verfassung des Individuums bestimmt wird. In keiner andern seelischen Betätigung prägt sich daher auch die Eigenart des Einzelnen so sehr aus als im G. (Über Gefühlsangelegenheiten läßt sich nicht streiten.) Für die psychologische Erforschung des Gefühlslebens bedeutet dies eine große Schwierigkeit, und deswegen bildet die Theorie der Gefühle eines der dunkelsten Kapitel der Psychologie. Wie kein psychischer Zustand oder Vorgang jemals für sich allein, außer Zusammenhang mit andern, vorkommt, so lassen sich auch bestimmte einzelne Gefühle nur in der Abstraktion aus der Verbindung lösen, in der sie einerseits mit den Vorstellungen, anderseits mit den Willensvorgängen stehen. Jeder Willensakt ist das Ergebnis einer bestimmten Gefühlslage, und umgekehrt kann jedes G. als Vorbereitung eines solchen gelten. Ob hierbei das G. das Ursprüngliche ist, aus dem das Wollen hervorgeht, oder ob umgekehrt jenes nur ein Symptom des gehemmten oder sich frei betätigenden Wollens ist, ist eine metaphysische Frage, die auf Grund der Erfahrung nicht entschieden werden kann. Das gleiche gilt von den einander entgegengesetzten Hypothesen, daß alles Vorstellen aus dem Fühlen hervorgegangen, und daß das G. nur ein Ergebnis der Wechselwirkung der Vorstellungen (Herbart) sei. In Wahrheit sehen wir Vorstellungen und Gefühle immer aneinander gebunden, nur daß man, vermöge der wechselnden Beschaffenheit der Gefühle, bei der Betrachtung jener von diesen abstrahieren kann, während die Gefühle sich ohne Rücksicht auf die betreffenden Vorstellungen schwer beschreiben, ja auch nur benennen lassen. Wie bei der Empfindung, so unterscheidet man auch beim G. Intensität und Qualität. Einige Psychologen lassen nur die zwei Qualitäten der Lust und Unlust gelten und leiten alle sonstigen Unterschiede aus den zugrunde liegenden Vorstellungen ab; andre sehen selbst Lust und Unlust bloß als verschiedene (positive und negative) Größenwerte des Gefühls an; im Gegensatz zu beiden Theorien nimmt dagegen Wundt eine unendliche Mannigfaltigkeit von Gefühlsqualitäten an, innerhalb deren er die drei paarweise entgegengesetzten Hauptrichtungen der Lust und Unlust, der Erregung und Beruhigung, der Spannung und Lösung unterscheidet. Jeder (einfachen) Empfindung entspricht im allgemeinen auch ein einfaches G. (Gefühlston, sinnliches G.), das[453] sich bei Änderung der Intensität oder Qualität der Empfindung mit ändert. Allgemein läßt sich in dieser Hinsicht nur sagen, daß Empfindungen von sehr großer Stärke (sehr helles Licht, sehr starker Druck) stets mit einem Unlustgefühl verbunden sind, im übrigen ist das Verhalten sehr verschieden, indem z. B. bei angenehmen Gerüchen und Geschmäcken mit Steigerung der Intensität auch das Lustgefühl zu einem Maximum anwächst, um dann weiter auf Null zurück und schließlich in Unlust überzugehen, während Druck-, Wärme- und Kälteempfindungen nur bei sehr geringer Stärke mit Lust verbunden sind, die bald in Unlust übergeht, und Licht- und Schalleindrücke innerhalb weiter Intensitätsgrenzen überhaupt nur einen sehr geringen Gefühlston aufweisen. Änderung der Empfindungsqualität kann die Qualität, aber auch die Stärke des Gefühls beeinflussen, indem z. B. ein bitterer Geschmack bei gleicher Stärke das G. mehr erregt als ein süßer. Treffen mehrere gefühlsbetonte Empfindungen (z. B. als Bestandteile einer Wahrnehmung oder Vorstellung) im Bewußtsein zusammen, so entstehen auch zusammengesetzte Gefühle, bei denen die an die einzelnen Vorstellungselemente geknüpften Teilgefühle und das aus ihrer Verbindung entspringende Totalgefühl zu unterscheiden sind. So bewirkt z. B. der Dreiklang c e g ein Totalgefühl der Harmonie, das die den einzelnen Klängen entsprechenden Klanggefühle als Elemente umfaßt, aber mehr ist als die bloße Summe dieser. Dadurch, daß bereits zusammengesetzte Gefühle wieder in Verbindung treten, entstehen Totalgefühle von immer verwickelterer Zusammensetzung, schließlich liefert auch die Gesamtheit aller gleichzeitig erregten Gefühle eine Resultante, welche die jeweilige Gemütslage oder Stimmung ausmacht. Verhältnismäßig einfacher ist das Gemeingefühl zusammengesetzt, das die Gesamtheit der (z. T. kaum merklichen) äußern und innern Tastempfindungen zur Grundlage hat. Zusammengesetzte Gefühle sind ferner die sogen. ästhetischen Elementargefühle (des Gefallens und Mißfallens), die durch Wahrnehmungen des Gesichts- und Gehörssinnes erregt werden. Einer höhern Stufe gehören die zusammengesetzten ästhetischen Gefühle (der Gesamteindruck eines Gemäldes, einer Tragödie etc.), die logischen Gefühle (welche die Denktätigkeit begleiten), die moralischen und religiösen Gefühle an. Die Abhängigkeit des Gefühlslebens von subjektiven Bedingungen tritt in verschiedenen Erscheinungen zutage. Vor allem darin, daß alle gleichzeitig bestehenden Gefühle sich stets zu einer Resultante verbinden (»Prinzip der Einheit der Gefühlslage«), wobei freilich sehr häufig die stärksten die schwächern fast ganz zurückdrängen (große seelische Leiden lassen körperliche Schmerzen vergessen), dann darin, daß jedes G. bei längerer Dauer an Stärke verliert (Abstumpfung des Gefühls), und daß es durch den Wechsel mit einem entgegengesetzten verstärkt wird (Kontrast der Gefühle). Hierher gehört ferner die Erscheinung der »Expansion des Gefühls«, vermöge deren in jeder folgenden Gefühlslage die vorhergegangene noch nachwirkt (wenn uns erfreuliche Eindrücke in gute Laune versetzt haben, so erscheint uns alles in rosigerm Lichte). Mit jedem G. verbinden sich körperliche Rückwirkungen, insbes. Modifikationen der Atmungs- und Herztätigkeit sowie mimische Bewegungen. Das empfindlichste dieser Symptome ist die Herztätigkeit (der Puls), die schon auf schwache Gefühle (z. B. bei Geschmacks- und Geruchsempfindungen) reagiert. Lustgefühle bewirken eine Verlangsamung und Verstärkung, Unlustgefühle Beschleunigung und Schwächung des Pulses, die erregenden sollen sich (nach Wundt) durch Verstärkung (ohne Verlangsamung), die beruhigenden durch Schwächung, die spannenden durch Verlangsamung, die lösenden durch Beschleunigung des Pulses verraten. Vgl. Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens (a. d. Dän., Leipz. 1892); Ziegler, Das G. (2. Aufl., das. 1893); Lipps, Vom Fühlen, Wollen und Denken (das. 1902); Ribot, Psychologie der Gefühle (deutsch von Ufer, Altenb. 1903). Vgl. Gemütsbewegungen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 453-454.
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