Gesicht

[208] Gesicht, der Sinn des Sehens, der Wahrnehmung des von den Gegenständen ausgehenden oder von ihnen zurückgeworfenen Lichtes, ist derjenige Sinn, welcher den Menschen auf die mannichfaltigste und interessanteste Weise, sowie bis auf die weitesten Entfernungen mit den Gegenständen, welche ihn auf der Erde, ja im Weltraum umgeben, in Verbindung setzt. Unser Gesicht reicht, wie wir aus der Erscheinung der Fixsterne entnehmen, bis in unermeßliche Fernen. Leuchtende Gegenstände bleiben so lange sichtbar, als ihre Lichtstärke in Verhältniß mit ihrer Entfernung steht. Die Organe des Gesichts sind bekanntlich die Augen (s.d.). Das Gesicht unterscheidet nicht nur die verschiedenen Lichtstärken, bis herab zum gänzlichen Mangel des Lichts (dem Schatten) und die verschiedenen Farben, sondern dient auch, die Größe der Gegenstände zu erkennen, wenn die Entfernung bekannt ist und die Entfernung, wenn man die wirkliche Größe kennt. Die scheinbare Größe eines gesehenen Gegenstandes nimmt nämlich ab, je größer die Entfernung desselben ist. Denkt man sich von dem höchsten und ebenso von dem niedrigsten Punkte eines Gegenstandes gerade Linien nach dem Auge eines Beobachters gezogen, so heißt der Winkel, den diese beiden Linien miteinander machen, der Gesichtswinkel, der Sehwinkel, oder, da von seiner Größe die Größe des gesehenen Gegenstandes für den Beobachter abhängt, die scheinbare Größe des Gegenstandes. Eine kurze Überlegung zeigt, daß derselbe Gegenstand unter desto kleinerm Gesichtswinkel erscheinen muß, je weiter entfernt er ist, und daß von zwei Gegenständen, welche dem Auge vermöge des Gesichtswinkels gleich groß erscheinen, der entfernteste der größte ist. Mit der Entfernung nimmt auch die Deutlichkeit der Gegenstände ab, weil die Sehwinkel, unter denen die kleinsten Theile des Gegenstandes erscheinen, allmälig zu klein werden, um noch Wahrnehmung zu gestatten. Eine ähnliche Undeutlichkeit tritt aber auch ein, wenn ein Gegenstand dem Auge allzu nah gerückt wird, und hieraus ergibt sich für jedes Auge eine bestimmte Entfernung, in welcher es die Gegenstände am deutlichsten wahrnimmt. Diese sogenannte Sehweite oder Weite des deutlichen Sehens ist fast für jedes Auge eine andere, doch liegt sie bei einem gefunden Auge in der Regel zwischen 12–20 Zoll. Menschen, welche nur solche Gegenstände wahrzunehmen vermögen, die sehr nahe bei ihren Augen sich befinden, heißen Kurzsichtige, während Weitsichtige solche sind, die nur entferntere Gegenstände deutlich sehen. Beide helfen sich durch Brillen (s.d.). Obgleich der Mensch im Stande ist, die Gegenstände in sehr verschiedenen Entfernungen zu erkennen, so muß doch das Auge sich gleichsam für jede Entfernung besonders anpassen, adjustiren. Haben wir z.B. längere Zeit unser Auge auf einen nahen Gegenstand gerichtet und wenden es dann schnell auf einen entferntern, so vergehen einige Augenblicke, ehe der entfernte Gegenstand deutlich wahrgenommen wird.

Höchst merkwürdig ist der Umstand, daß jeder Mensch in jedem seiner Augen einen Punkt hat, auf welchem er völlig blind ist. Man kann sich hiervon überzeugen, wenn man auf ein Blatt weißen Papieres eine rothe Oblate legt und in etwa 21/2 Zoll Entfernung rechts von derselben ein ungefähr 81/2 Zoll hohes Buch auf das Papier stellt. Legt man dann den Kopf mit der Nase auf das Buch, schließt das rechte Auge und blickt mit dem linken Auge scharf am Buche herab, so gewahrt man zugleich die seitwärts liegende weiße Fläche des Papiers, aber die Oblate nicht, welche gradezu verschwunden ist. Sie kommt alsbald zum Vorschein, wenn man das Auge etwas aus der angegebenen Stellung verrückt.

Der Sinn des Gesichts ist, wie der schärfste und am weitesten reichende Sinn des Menschen, auch derjenige, welcher den meisten Täuschungen und Fehlern ausgesetzt ist. Außer dem Staar (s.d.) und der angegebenen Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit gehören zu den Augenfehlern das Tagsehen und das Nachtsehen. Jenes, auch Nachtblindheit oder Hühnerblindheit genannt, äußert sich dadurch, daß das Auge nur im hellen Sonnenlichte sieht, für schwaches Licht aber völlig unempfindlich, blind ist, und kommt besonders in gewissen Ländern, z.B. China, Brasilien, sehr häufig vor. Bei dem Nachtsehen oder der Tagblindheit kann das Auge das helle Sonnenlicht nicht ertragen und sieht dafür bei schwachem Lichte besser, als ein gewöhnliches Auge. Die Empfindlichkeit des Auges für das Licht geht zuweilen bis zur Lichtscheu, bei welcher das Auge fast gar kein Licht zu ertragen vermag. Blendendweiße Gegenstände bringen im Auge einen schmerzhaften Reiz hervor, der sogar entzündlich werden kann. Eine hieher gehörige Erscheinung ist die in den Polargegenden häufig vorkommende Schneeblindheit.

Der Mensch hat zwei miteinander in ihrem Bau genau übereinstimmende Augen, und sieht mit diesen beiden Augen die Gegenstände nicht doppelt, sondern einfach, weil Eindrücke, welche entsprechende Punkte beider Augen zugleich treffen, nur einmal wahrgenommen werden. Bringen wir aber die Augen aus derjenigen Lage, welche ihnen die Natur gegeben, so treffen die von demselben Gegenstande ausgehenden Lichtstrahlen nicht beide Augen in entsprechenden Theilen und wir sehen daher beim Schielen die Gegenstände doppelt. Ist jedoch das Schielen durch Natur oder Gewohnheit bleibend geworden, so sieht man nur einfach, weil in diesem Falle ein Auge oder beide Augen so unregelmäßig verändert sind, daß bei einer schiefen Stellung die in Bezug auf das Sehen in beiden Augen einander entsprechenden Punkte gleichzeitige Eindrücke erfahren. Sehr häufig ist das Schielen nur eine üble Angewohnheit und man kann es dann abgewöhnen, wenn man das schielende Auge mit einer Kapsel bedeckt hält, in welcher sich nur eine kleine Öffnung befindet, die so angebracht sein muß, daß, wenn man sehen will, das schielende Auge in die naturgemäße Stellung genöthigt wird. – Ein merkwürdiger, nicht selten vorübergehend vorkommender Fehler ist das Halbsehen, jedenfalls ein krankhafter Zustand der Nerven, bei welchem immer die eine Hälfte der angeblickten Gegenstände verschwindet. Doch kommt Ähnliches auch bleibend in Folge theilweiser Lähmung der Netzhaut vor. – Dem Umstande, daß man in einem krankhaft aufgeregten oder geschwächten Zustande Gegenstände, lebendige sowol als leblose, ja die Gebilde einer völlig zügellosen Phantasie wahrnehmen kann, ohne daß solche irgend ein äußerliches Dasein haben, ja ohne daß ein Gegenstand vorhanden ist, der nur für etwas Anderes angesehen würde, ist ein großer [208] Theil des Aberglaubens an Geistererscheinungen (s.d.), zuzuschreiben.

Es gibt Personen, welche übrigens ganz gesunde Augen haben, aber gewisse Farben nicht zu unterscheiden vermögen. Das merkwürdigste Beispiel in dieser Beziehung erzählt der berühmte engl. Naturforscher Brewster von einem Schuhmacher in Cumberland, welcher nur weiß und schwarz kannte, indem er auch nicht eine Farbe zu erkennen vermochte. In Krankheitszuständen ereignen sich noch besonders auffällige Erscheinungen. So soll es bei einer Pest vorgekommen sein, daß die Erkrankten die Gegenstände mit Regenbogenfarben erblickten. Ein alter Mann sah eine Zeit lang alle Gegenstände krumm und nach einer Seite hängend. Fast unglaublich aber und bis jetzt unerklärt sind die Fälle von Personen, bei denen vom Hindurchsehen durch eine Brille die Gläser nach einiger Zeit mit tiefen Rissen zerkratzt und erblindet waren, und zwar im Umfange des Augensterns. – Es gibt noch eine große Anzahl von Augenfehlern und Gesichtstäuschungen, welche hier nicht weiter erwähnt werden können. Aus dem Angeführten wird hinlänglich hervorgehen, wie sehr man gegen die Erscheinungen des Auges mistrauisch zu sein Ursache habe und wie große Sorgfalt man bei der Behandlung eines so sehr zu Regelwidrigkeiten geneigten Sinnenwerkzeugs anwenden müsse. Besonders nachtheilig kann dem Auge ein schneller Wechsel zwischen Finsterniß und Licht werden. Derselbe kann völliges Erblinden zur Folge haben, besonders wenn sich das Auge ohnedies in einem gereizten Zustande befindet. Das Auge muß sich nämlich für jede herrschende Lichtstärke besonders einrichten. Kommen wir aus der Tageshelle in einen dunkeln Raum, so werden wir anfangs keinen Gegenstand zu unterscheiden vermögen; allmälig aber wird das Auge wieder zu sehen beginnen. Treten wir dagegen aus der Dunkelheit in ein hellerleuchtetes Zimmer, so werden wir eine Zeit lang so geblendet sein, daß die Augen schmerzen und keinen Gegenstand deutlich zu unterscheiden vermögen, weil sie kein längeres Hinblicken aushalten. Daher ist es z.B. auch nachtheilig, das Bett so zu stellen, daß beim Erwachen sogleich das volle Sonnenlicht auf die Augen fällt, oder daß man des Nachts vom Monde beschienen wird. Hellleuchtende Lampen pflegt man, um die Blendung zu vermeiden. mit Schirmen zu versehen. Doch sind die völlig undurchsichtigen Schirme, welche gewöhnlich Studirlampen haben, mehr schädlich als nützlich. Hier wird nämlich ein kleiner Raum vor der Lampe sehr stark erleuchtet, der übrige Theil des Zimmers aber dunkel gelassen, und das Auge erleidet ebenso oft starke Lichtwechsel, als man es von dem erleuchteten Raume weg- und wieder dahin zurückwendet.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 208-209.
Lizenz:
Faksimiles:
208 | 209
Kategorien:

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon