Nerven

[263] Nerven heißen weiße oder weißliche einzelne markige Fäden des thierischen Körpers, die durch ihr eines Ende mit den Vereinigungs- (Central-) Organen des gesammten Nervensystems, dem Gehirn und Rückenmark, durch ihr anderes mit den Sinneswerkzeugen, den Muskeln, Gefäßen und der Haut zusammenhängen. Jeder Nerv wird von einer zarten häutigen Hülle, der sogenannten Nervenscheide, umgeben, die reich an Blutgefäßen ist, von denen die feinsten bis in das Nervenmark selbst reichen. Die Nerven verbreiten sich im ganzen Körper, jedoch nicht in alle Theile desselben in gleicher Menge; das Oberhäutchen, die Nägel und Haare enthalten z.B. gar keine; in den Knochen, Knorpeln, Gelenkbändern u.s.w. ist ihr Vorhandensein noch zweifelhaft. Sie besitzen eine verschiedene Stärke, je nachdem sich mehr oder weniger Markbündel zu einem Nerven vereinigen, nehmen in ihrem Verlaufe allmälig an Umfang zu, sodaß die einzelnen Zweige zusammengenommen einen stärkern Strang bilden als der Stamm, von dem sie ausgehen, und stehen in mannichfaltiger Verbindung miteinander. In einzelnen Gegenden des Körpers ist diese eine so genaue, daß sie miteinander verwachsen erscheinen, und die Bündel des einen mit denen des andern sich durchkreuzen und verflechten. Dadurch entstehen die sogenannten Nervengeflechte, die sich hauptsächlich im Unterleibe vorfinden und unter der Benennung des Gangliensystems bekannt sind. Der die Lehre von den Nerven begreifende Theil der Anatomie wird Neurologie genannt, alle Nerven des Körpers aber begreift man unter dem Namen des Nervensystems. Von diesem macht das Gehirn (s.d.) nebst seinem Anhange, dem Rückenmarke, den Mittelpunkt aus, von welchem alles im Nerven Wirkende ausgeht und wohin sich alle Eindrücke der Außenwelt fortpflanzen. Die Masse der Nerven besteht übrigens aus dem nämlichen markigen Stoffe, der auch das Gehirn bildet und mit dem Vergrößerungsglase betrachtet, aus Kügelchen zusammengesetzt zu sein scheint. Nach außen findet das gesammte Nervensystem seine Endigung theils in der Haut, theils im Innern der Organe. Dem Nervensystem verdanken Thier und Mensch, ganz vorzüglich aber letzterer, ihr vollkommeneres Dasein und namentlich den Grad von Unabhängigkeit von der Außenwelt, den sie wirklich besitzen. Von dem Nervensysteme geht alles Leben aus und auf ihm beruht alle Thätigkeit der Seele; Gefühl, Empfindungen, Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen werden durch dasselbe vermittelt. Erst das Nervensystem verbindet die mannichfaltigen, sich zum Theil fremdartigen Gebilde des thierischen Körpers, welche durch Zellgewebe, Häute und Bänder nur mechanisch zusammengehalten werden, zu einem zusammenhängenden Ganzen, indem es dieselben belebt, ihre Verrichtungen regiert und zu einem gemeinschaftlichen Zwecke zusammenwirken macht. Dies geschieht, ohne zum klaren Bewußtsein der Seele zu gelangen, unter dem Einflusse des hauptsächlich im Unterleibe ausgebreiteten, sich vielfach verflechtenden und durch die sogenannten Nervenknoten von dem Gehirn gewissermaßen abgesonderten Gangliensystems.

Ein anderer Theil des Nervensystems, das sogenannte Gehirnsystem, bedingt das Verhältniß des Menschen zur Außenwelt, die Anschauung (Empfindung) dieser bis zum Bewußtsein, sowie die willkürliche Bewegung und Veränderung im Raume. Zur Bewerkstelligung letzterer wirken von dem Gehirn aus bestimmte Willensreize auf diejenigen Nerven, welche sich in den zu bewegenden Muskeln verbreiten, während andere Nerven, die Sinnesnerven, welche paarweise von dem Gehirn zu den verschiedenen Sinneswerkzeugen gehen, die Aufgabe haben, an der Oberfläche des Körpers die Eindrücke der Außenwelt aufzunehmen, sie bis zum Gehirn fortzupflanzen und hier zur Entstehung von Vorstellungen Veranlassung zu geben. Das sogenannte Gemeingefühl (das von innern Empfindungen abhängige Gefühl des eignen Daseins und Befindens) wird durch das gesammte Nervensystem, besonders jedoch durch das Gangliensystem, vermittelt. Die Thätigkeit des Nervensystems ist sonach eine wechselseitige, eine von außen nach innen, und umgekehrt. Will man sich aber die eben besprochenen Verrichtungen des Nervensystems nur einigermaßen erklären, so kann man es blos durch die Annahme einer Nervenkraft, deren Entwickelung außer von dem Leben selbst und der besondern Organisation des Nervensystems von der Einwirkung von Reizen abhängt, die, je nachdem sie auf die äußern oder innern Nervenendigungen einwirken, äußere oder innere genannt werden. Die Empfänglichkeit für dieselben bezeichnet man als Reizbarkeit (Receptivität), die Gegenwirkung auf ihre Einwirkung mit der des Wirkungsvermögens, der Energie oder Reaction. Der Grad der Reizempfänglichkeit des Nervensystems entscheidet über den Grad der Schnelligkeit, mit welcher dasselbe thätig wird, die Beschaffenheit seines Wirkungsvermögens über die Stärke und Dauer seiner Thätigkeitsäußerungen. Von dem verschiedenen Verhältnisse der Reizbarkeit und Energie des Nervensystems hängt sowol die Verschiedenheit der Temperamente einzelner Personen als ganzer Nationen ab. – Unter Nervenkrankheiten versteht man diejenigen Krankheiten, deren Haupterscheinungen in Störungen der dem Nervensysteme eignen Verrichtungen, namentlich in Äußerungen krankhaft abgeänderter Empfindung und Bewegung bestehen oder deren Hauptzufälle, wenn sie auch andere Organe und Verrichtungen betreffen, doch zunächst durch Nerveneinfluß bedingt werden. Man unterscheidet die Nervenkrankheiten in solche mit vorwaltenden Abweichungen des Gemeingefühls vom gefunden Zustande, wie Kopfschmerz, Zahnschmerz, Magenschmerz, Darmschmerz u.s.w., in solche mit gesundheitswidrigem Verhalten der natürlichen Triebe, wie übermäßiger Hunger, Durst, Geschlechtstrieb, die verschiedenen[263] Gelüste; mit krankhafter Beschaffenheit der äußern Sinne, wie Blindheit in Folge von schwarzem Staar, Ohrensausen, oder des innern Sinnes, wie die verschiedenen Arten von Seelenstörung, oder der Muskelbewegung, wie Krämpfe und Lähmungen; endlich in solche mit gemischten Abweichungen der Verrichtungen des Nervensystems, wie z.B. die Hypochondrie und Hysterie, die Fallsucht, den Schwindel, die Schlafsucht, den Schlagfluß, die Ohnmacht, den Scheintod und die Hundswuth. Die Nervenkrankheiten zeigen etwas Unbestimmtes, Veränderliches in ihren Erscheinungen, machen zuweilen einen raschen, meist jedoch einen langwierigen Verlauf, treten öfters ohne alle Vorboten und ebenso plötzlich ein, als sie sich andere Male verschlimmern und aufhören oder aussetzen, und zeigen sich nicht selten periodisch. Eine besondere Anlage zu ihnen begründet vor Allem die sogenannte nervöse Körperconstitu tion, die sich im Äußern durch einen seinen, zarten Körperbau, schlanken Wuchs, seines, dünnes, blondes Haar, weiche, weiße, mit blauen Adern durchzogene Haut ausspricht, außerdem durch Überwiegen des geistigen Lebens über das körperliche, große Empfänglichkeit für Eindrücke aller Art, sehr veränderliche, leicht reizbare Gemüthsstimmung beurkundet und in den verschiedenen Entwickelungsepochen des Lebens besonders hervortritt. Sie ist oft angeboren, wird vorzugsweise bei Bewohnern großer Städte, mehr bei dem weiblichen als männlichen Geschlechte beobachtet und nicht selten durch eine unangemessene Lebensweise der Mütter während der Schwangerschaft, fehlerhafte Erziehung, allzu schnelles Wachsen, zu frühe und unverhältnißmäßige Geistesanstrengung u.s.w. herbeigeführt.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 263-264.
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