Blindheit

[265] Blindheit. Im Zustande der Blindheit befindet sich Jeder, der des Sehvermögens selbst oder der Ausübung desselben für immer oder für einige Zeit beraubt ist. Die Blindheit kann angeboren oder durch Krankheit und Verletzungen herbeigeführt worden sein. Die angeborene hat ihren Grund entweder in der Wassersucht der Hirnhöhlen oder in der Verschließung des Sehlochs durch das Zurückbleiben eines vor der Geburt naturgemäß vorhandenen dünnen Häutchens, der sogenannten Pupillarmembran; ferner in irgend einer Misbildung des Augapfels oder endlich in der Verwachsung der Augenlidränder unter sich. Zu den Blindgeborenen werden häufig auch Kinder gerechnet, die zwar sehend zur Welt kamen, aber schon in den ersten Tagen ihres Lebens in Folge der bei Neugeborenen gefährlichen Augenentzündungen das Sehvermögen wieder einbüßten und daher so wenig, wie Blindgeborene, Vorstellungen von den sie umgebenden Gegenständen durch den Gesichtssinn auffassen können. Kinder und Greise sind im Allgemeinen dem Erblinden am meisten ausgesetzt; im mittlern Lebensalter kommt es seltener vor und ist dann meist Folge von Verletzungen der Augen und ihrer Umgebungen oder vernachlässigter und schlecht behandelter Augenkrankheiten. Außerdem ist nichts gefährlicher, als eine übermäßige und rücksichtslose Anstrengung der Augen, wie sie leider bei Gelehrten, Künstlern und Handwerkern sehr häufig stattfindet. Die Zahl nicht nur der Halbblinden, sondern auch die der völlig und oft unheilbar Erblindeten ist daher in allen Ländern größer, als man glauben sollte, wird aber nur deshalb weniger bemerkt, weil Blinde durch ihr Unglück abgehalten werden, sich häufig öffentlich zu zeigen. Nicht in allen Ländern ist jedoch die Menge der Blinden gleich, sondern es gibt deren in heißen Ländern verhältnißmäßig beiweitem mehr als in kalten. Auch veranlaßt das Erblinden ein Beruf vor dem andern, indem z.B. von den Arbeitern in manchen Bergwerken, Schmelzhütten und Fabrikanstalten wenige das 30. oder 40. Jahr zurücklegen, ohne den Gebrauch ihrer Augen verloren zu haben. So groß aber der Verlust des Augenlichtes ist und so schmerzlich den Blinden die Abhängigkeit von seinem Nebenmenschen an die eigne Hülflosigkeit erinnert, so findet man dennoch bei der Mehrzahl eine unter solchen Umständen bewundernswerthe Heiterkeit des Gemüths und eine Liebenswürdigkeit des Charakters, die sich vorzüglich in großer Herzensgüte und kindlichem Vertrauen zu jedem, nur irgend theilnehmenden Menschen ausspricht, und sie unterscheiden sich hierdurch wesentlich von Taubstummen, die gewöhnlich mistrauisch und menschenfeindlich gesinnt sind. Bei solchen Blinden, die erst als Erwachsene um ihr Gesicht kommen, äußert sich gewöhnlich die Trauer um den Anblick der für sie in Nacht gehüllten Welt in einer tiefen Schwermuth. Mit der Zeit wird aber ihr Schmerz durch Gefühllosigkeit oder wohlthätiges Vergessen, bei geistig begabten Menschen durch höhere Thätigkeit ihrer Seele gemildert. Es tritt zugleich eine Verfeinerung der übrigen Sinne ein, das Gehör erlangt eine ausgezeichnete Schärfe und Blinde zeigen meist ein entschiedenes Talent für Musik. Nicht minder erhöht sich die Wahrnehmung durch den Tastsinn, sodaß Blinde durch das Befühlen von Gegenständen nicht nur deren Gestalt, Umfang und die Beschaffenheiten ihrer Oberfläche, sondern selbst ihre Farben zu unterscheiden vermögen. Diese Feinheit des Gehör-und Tastsinnes kommt vorzüglich bei dem Unterrichte Blindgeborener sehr zu statten, indem man z.B. Lehrbücher mit über eine ebene Fläche erhabener Schrift anwendet, um Blinde lesen, Wachstafeln, um sie durch Benutzung des Tastsinnes schreiben zu lehren. Auch für die eigne Führung des Blinden ist eine möglichst vollkommene Entwickelung und Ausbildung des Tastsinnes von großer Wichtigkeit, insofern ihm dann sein Stab als verlängertes Betastungsorgan dienen und vor Gefahr bewahren helfen kann.

Für die Erziehung Blindgeborener ist jetzt besser als ehemals durch Gründung eigenthümlicher und ausschließlich für sie bestimmter Blindenan stalten gesorgt. Als die älteste derselben ist die zu betrachten, welche Ludwig der Heilige 1254 nach seiner Rückkehr vom Kreuzzuge in Paris für 300 Blinde stiftete, welche im Morgenlande durch die dort herrschende Augenentzündung oder durch die Grausamkeit der Sarazenen die Augen verloren hatten. Sie besteht noch heutiges Tages, ist aber mehr Versorgungsanstalt für alte erwachsene, als Unterrichtsanstalt für junge Blinde, wozu sie in neuerer Zeit nur vorübergehend gedient hat. Der Ruhm, die erste Idee unserer gegenwärtigen Blindenanstalten gefaßt und ausgeführt zu haben, gebührt einem Franzosen, Valentin Hauy, der 1784 zu Paris einen Blinden zu unterrichten anfing und da dieser glückliche Fortschritte machte, bald [265] 12 Blinde zu gleichem Zwecke vereinigte, für deren Unterhalt eine wohlthätige Gesellschaft sorgte. Diese Anstalt wurde 1791 königlich und besteht nach mancherlei Veränderungen seit 1816 unter der Benennung »kön. Anstalt der jungen Blinden« als eigentliche Erziehungsanstalt für Blinde. Bei der Gründung seiner Anstalt bezweckte Hauy, Blinde wo möglich in allen Zweigen des menschlichen Wissens zu unterrichten und mit Benutzung der für diesen Zweck bereits bekannten Hülfsmittel fand er Mittel und Wege auf, seine Zöglinge nicht nur in solchen Handarbeiten, die meist ohne Beihülfe Sehender und ohne Gefahr der Verletzung verrichtet werden können, sondern auch in der Tonkunst und in den Wissenschaften zu unterweisen. Seitdem sind fast in allen Ländern Europas, z.B. 1790 und 1791 in Liverpool und Edinburg, 1800 in London, 1806 in Berlin, 1807 in Petersburg, 1808 in Wien, Prag und Amsterdam, 1809 in Dresden, 1810 in Zürich, 1811 in Kopenhagen u.s.w. ähnliche Erziehungsanstalten für Blinde entstanden und die mechanischen Hülfsmittel zur Erleichterung des Unterrichts haben sich vervollkommnet und vervielfältigt. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, daß sie stets auf den Gehör- und Tastsinn vorzugsweise berechnet sein müssen.

Beispiele von Blinden, welche sich durch seltene Geistesgaben oder mechanische Fertigkeiten auszeichneten, sind nicht selten. Auch Homer. war blind und die neuere Zeit kennt den blinden engl. Dichter Milton und den deutschen Pfeffel. Von ausgezeichneten Musikern erinnern wir nur an den 1826 zu Würzburg verstorbenen berühmten Flötenspieler Dulon und an das Fräulein Paradis, welche sich als Clavierspielerin und Sängerin auch im Auslande Bewunderung erwarb und 1824 in Wien als Vorsteherin einer musikalischen Bildungsanstalt starb. In Waltershausen bei Gotha lebte 1812 ein blinder Uhrmacher, Namens Heinze, und neuerdings hat sich der blinde Engländer James Holman durch seine großen Reisen in Europa, Asien, Amerika und Australien berühmt gemacht.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 265-266.
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