Hysterie

[435] Hystĕrie, Mutterplage, Mutterstaupe sind gleichbedeutende Benennungen für eine ausschließlich dem weiblichen Geschlecht zukommende Krankheit, die in den eigenthümlichen Geschlechtsverhältnissen desselben gewissermaßen ihre Wurzel hat, sich hauptsächlich durch eine widernatürliche gesteigerte Empfindlichkeit der Nerven und große Veränderlichkeit sämmtlicher Krankheitserscheinungen auszeichnet und den Krampfkrankheiten nahe verwandt ist. Das Übel entwickelt sich immer erst mit dem Eintritte der Mannbarkeit oder später bis etwa zum 45. Jahre und verräth sich zuerst durch eine auffallende Veränderlichkeit des körperlichen Befindens und der Gemüthsstimmung, sowie durch eine ungewöhnliche Empfindlichkeit gegen äußere Eindrücke. Die Kranke ist sehr zum Frösteln geneigt und empfindet die geringste Witterungsveränderung, kann oft schon durch ein helles Licht, durch einen mäßig lauten Schall beunruhigt und belästigt werden und unterliegt mannichfachen Sinnestäuschungen, namentlich was Geruch und Geschmack anlangt. Endlich artet die krankhafte Reizbarkeit in wirkliches Krampfleiden aus. Die Kranke erleidet nun förmliche (sogenannte hysterische) Anfälle, die sich von Zeit zu Zeit, anfangs seltener, später immer öfter und meist ohne alle äußere Veranlassung wiederholen. Nachdem einige Augenblicke lang Gähnen, Recken der Glieder, ziehende Schmerzen in denselben, Gefühl von Kälte im Hinterkopfe, Druck in der Magengegend, Magenkrampf, Beklemmung in der Brust, große Angst vorausgegangen sind, verliert sich das Bewußtsein oder auch nur die Fähigkeit zu sprechen, und es treten die mannichfaltigsten und sonderbarsten Zuckungen und Krämpfe ein mit unwillkürlichem Lachen, Weinen und Schreien. Diese Krämpfe halten fünf bis dreißig Minuten an und hören dann unter Poltern im Unterleibe wieder auf. Bleiben nun auch manche Kranke frei von solchen heftigen Anfällen, so werden sie dafür von Zeit zu Zeit von unerträglicher Angst und Athmungsbeschwerden befallen oder beklagen sich über das Gefühl einer aus dem Unterleibe durch die Brust bis in den Hals aufsteigenden Kugel mit krampfhafter Zusammenschnürung im Schlunde, über einen eigenthümlichen, auf eine sehr kleine Stelle beschränkten Kopfschmerz, den sie so beschreiben, als werde ihnen ein Nagel in den Kopf getrieben, oder sie leiden an kolikartigen Schmerzen im Unterleibe mit der Empfindung, als bewege sich ein lebendes Thier in demselben, an Ekel, Würgen und Erbrechen wässeriger Flüssigkeit und der genossenen Speisen u.s.w. Dabei ist meist die Verdauung gestört, der Stuhlgang selten, die Menstruation oft übermäßig, unordentlich, mitunter jedoch auch ganz regelmäßig. Die Hysterie scheint in manchen Familien erblich zu sein und entwickelt sich dann mit dem Eintritte der Mannbarkeit von selbst, oder sie ist Folge einer fehlerhaften Erziehung, insbesondere einer zu frühen, auf Unkosten des Körpers erzwungenen Ausbildung des Geistes, einer krankhaften, durch Lesen von Romanen genährten Empfindelei, des Müßiggangs, der Selbstbefleckung, unbefriedigter Liebe, der Ehelosigkeit oder einer unglücklichen, gezwungenen, kinderlosen Ehe oder auch allzu häufiger Wochenbetten, zu langen Stillens, anhaltenden Kummers und Grams, der Bleichsucht, des Veitstanzes und anderer Nervenkrankheiten. Übrigens ist die Krankheit gewöhnlich von langer Dauer, zumal wenn unabänderliche Lebensverhältnisse ihrer Heilung wesentliche Hindernisse in den Weg legen, oft wird sie jedoch durch eine glückliche Ehe, Schwangerschaft, Wochenbette, das naturgemäße Verschwinden des Monatsflusses u.s.w. gehoben, kann aber freilich auch in dauernde Nerven- und Geisteskrankheiten übergehen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 435.
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