Roman

[732] Roman heißt eine Form dichterischer Darstellung von der verderbten lat. (romanischen) Sprache, in welcher im frühen Mittelalter die ersten poetischen Werke unter jenem Namen, die altfranz. Romane verfaßt wurden, ohne daß sie deshalb große Ähnlichkeit mit Dem besaßen, was heute unter Roman verstanden wird. Sie waren durchaus Erzeugnisse der Ritterpoesie, erzählten abenteuerliche und wunderbare Begebenheiten und Thaten ausgezeichneter Helden und vereinigten den Charakter von Epos und Geschichte hin und wieder mit der vom eigentlichen Roman verlangten Auffassung der Begebenheiten von einem mehr individuellen Standpunkte oder nach ihrer vorwaltenden Beziehung auf das Leben eines Einzelnen. In den Zeiten der Kreuzzüge begann der Roman zwar sich mehr und mehr vom Epos abzutrennen, vermochte jedoch als poetische Schilderung der an wunderbaren oder doch als solche aufgefaßten Ereignissen reichen Geschichte derselben sich noch keineswegs selbständig zu entwickeln. Er schwankte vielmehr zwischen den alten sogenannten Romanen und den Epopöien, aus deren Bearbeitung in Prosa nachher die zahllosen Ritterromane entstanden. Einige nord. Sagen abgerechnet, welche weniger Göttergeschichten enthalten und den Ritterromanen beigesellt werden können, bewegen sich die frühesten hauptsächlich in drei Fabelkreisen, von welchen der vom König Artus, seinem zauberreichen Rathgeber Merlin (s.d.), vom h. Graal und der Tafelrunde (s.d.) vorzugsweise England, der von Karl dem Großen und seinen zwölf Paladinen Frankreich anzugehören scheint. Die älteste Quelle der letztern Dichtungen ist die fälschlich dem Erzbischof Turpin von Rheims zugeschriebene Erzählung vom Leben Karl's des Großen und Roland's, deren Zeitgenosse er war, die aber vermuthlich noch später als im 10. Jahrh. zusammengetragen wurde. Gegen Ende des 13. Jahrh. entstanden noch die Romane von Bertha mit dem großen Fuß, Ogier dem Dänen, Rinald von Montalban, von den Haimonskindern, Hüon von Bordeaux, Doolin von Mainz, Morgante dem Riesen u.A. Der Fabelkreis von den Amadissen endlich scheint auf der pyrenäischen [732] Halbinsel heimisch zu sein, ohne daß sich jedoch geschichtliche Ereignisse angeben ließen, an welche diese Dichtungen sich anknüpfen, Es gehören hierher der Amadis von Gallien, der von Griechenland, vom Gestirn und von Trapezunt, deren Fortsetzungen und thörichte Nachahmungen die span. Literatur mit Ritterromanen überschwemmte, bis dieser falschen Richtung durch den »Don Quixote« des Cervantes (s.d.) Einhalt gethan wurde. In Frankreich folgten im 16. Jahrh. den Ritterromanen die satirischen (s. Rabelais) und die galanten Schäferromane, im 17. Jahrh, die komischen von Scarron (s.d.) und Lesage. Italien hat von Dichtungen in ungebundener Rede nur die Novelle (s.d.) mit Erfolg angebaut, bevor der eigentliche Roman in neuester Zeit nach dem Vorgange von A. Manzoni (s.d.) Bearbeiter fand. Vom wichtigsten Einflusse auf die Fortbildung des Romans waren im 18. Jahrh. die engl. von Samuel Richardson, gest. 1761, welcher der Schöpfer einer Art moralischer Romane wurde, deren erstem, »Pamela« (deutsch, 4 Bde., Liegnitz 1772) sogar Empfehlung von der Kanzel zu Theil ward. Von seinen übrigen erhielten »Clarissa« (deutsch, 8 Bde., Lpz. 1790–93) und »Grandison« (deutsch, 7 Bde., 1780) den vorzüglichsten Beifall. Neben ihnen, die ihre moralische Richtung auf Kosten der Wahrheit der geschilderten Zustände behaupten, trat Fielding (s.d.) mit seinen komischen Familiengemälden und der an Humor und Laune reiche Sterne mit dem »Leben und Meinungen des Tristram Shandy« und »Yorik's empfindsamer Reise« auf. Ein Muster seiner Art lieferte Oliver Goldsmith (s.d.) im »Landprediger von Wakefield« und nach längerm Ausbleiben vorzüglicher Erscheinungen auf diesem Gebiete der engl. Literatur begann W. Scott (s.d.) die Reihe seiner ebenso nationalen wie geistreichen Dichtungen.

In Deutschland erhielten sich die Ritterromane am längsten, denn auch die im 17. Jahrh. durch Lohenstein und Hoffmannswaldau aufgekommenen Heldenromane waren blos eine Ausartung derselben. Daneben entstanden Schäferromane nach engl. Mustern, die galanten und sogenannten politischen Romane, gegen welche die moralischen Romane des braunschw. Hofpredigers Buchholz gerichtet waren und nur »Die Abenteuer des Simplicissimus« (neu herausgegeben von E. v. Bülow, Lpz. 1836), dessen Verfasser den dreißigjährigen Krieg mitgemacht und seine Erlebnisse auf eine noch jetzt höchst anziehende Weise schildert, machen in ihrer lebensvollen Wahrheit eine auffallende Ausnahme von dem verderbten Geschmacke jener Zeit. Nach einem kurzen Stillstande veranlaßte die Übersetzung des Robinson von De Foe (s.d.) eine Reihe ungereimter Robinsonaden, denen die »Aventüriers« in gleicher Menge folgten, bis die Richardson'schen Romane hier bekannt wurden und Deutschland in »Sophiens Reisen« von Hermes den ersten Originalroman erhielt. Aber nur in Einzelnheiten dieses bändereichen Werkes findet sich das eigentliche Wesen des Romans und erst nachdem sich dieser in einer Unzahl von Romanen (s. Deutsche Kunst, Literatur und Wissenschaft) nach allen Seiten versucht hatte, word dieses näher erkannt, und Göthe gab endlich in »Wilhelm Meister's Lehrjahren« das Vollendetste in dieser Dichtungsart. Die allgemeine Aufgabe derselben ist poetisch wahre Schilderung von Menschen und Begebenheiten nach Gesinnung, ursachlichen Beziehungen und Zusammenhang. Das ganze Gebiet menschlichen Thuns und Denkens ist ihm daher zu poetisch-künstlerischer Bearbeitung geöffnet und die Mannichfaltigkeit Dessen, was darauf dargeboten wird und die Art der Auffassung bedingen daher auch jene große Zahl näherer Bezeichnungen, mit denen man die Romane z.B. als komische, historische, philosophische, didaktische, lyrische u.s.w. charakterisirt. Eine »Bibliothek classischer Romane des Auslandes« in trefflicher übersetzung erscheint seit 1825 in Leipzig (bis jetzt 27 Bde.).

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 732-733.
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