Praxis

[454] Praxis (gr. praxis) heißt die aus gewohnter Tätigkeit hervorgehende Übung; sie bildet den Gegensatz zur Theorie, dem wissenschaftlichen Erkennen und Verständnis. Praxis und Theorie können sich verbinden, können aber auch im Widerspruch zueinander stehn. Einsicht und Übung ergänzen sich, und da ein einsichtsloses Handeln nur zufällig zum Ziele führt, so kann Praxis nicht ohne Theorie sein, wenn sie zum sicheren Erfolge führen will. So kann die rechte Theorie und die erprobte Praxis sich nicht widersprechen. Wo Praxis und Theorie trotzdem[454] im Widerspruch stehen, muß jene blind, diese einseitig sein; doch hat in diesem Falle die Praxis immer etwas vor der Theorie voraus, weil alle Erkenntnis mit der Erfahrung beginnt und so trifft Goethes Wort zu: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum«. (Faust.) Beide müssen nach Ausgleich streben. Nur wo die Theorie noch nicht genügend geklärt oder die Praxis noch nicht genügend erprobt ist, wandeln sie zwiespältig nebeneinander. Jedenfalls ist es in der Moral, Ästhetik und Religion eine Halbheit, dasjenige, was man theoretisch vollständig anerkennt, nicht auch in die Praxis umzusetzen. Diese Halbheit ist oft die Signatur der Übergangsepochen in der Kulturgeschichte. Sie deutet aber die zukünftige Entwicklung an. Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: »das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.« 1793, Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 38 ff.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 454-455.
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