Dualismus der Bewegung

[147] Dualismus der Bewegung. Ein ebenes Gebilde Σ1, oder auch, allgemeiner aufgefaßt, eine Ebene Σ1 mit allen Punkten, Geraden, Kurven, Winkeln u.s.w., die sie enthält, bewege sich in einer andern Ebene Σ2. Ihre Bewegung besteht darin, daß die Punkte A1 B1 C1 ... von 2 nach und nach mit immer andern [147] Punkten A2, B2, C2 ...; A2', B2', C2' ...; A2'', B2'', C2'' ... u.s.w. von Σ1, in kontinuierlicher Folge zusammentreffen. Aber während dieses Vorgangs treffen auch die Punkte von Σ2 mit immer andern Punkten von Σ1 zusammen, d.h. während sich Σ1 in Σ2, bewegt, bewegt sich auch Σ2 zugleich in Σ1. Beide Bewegungen bestimmen einander gegenseitig so, daß mit der einen zugleich die andre gegeben ist. Sie sind aber im allgemeinen voneinander sehr wesentlich verschieden. Man sieht hieraus, daß der Begriff der Bewegung überhaupt ein relativer Begriff ist und daß von Bewegung eines Systems nur in bezug auf ein andres geredet werden kann, dann aber zugleich auch die Bewegung des zweiten in bezug auf das erste selbstverständlich ist. Indem wir die Systeme in ihrer ganzen Erstreckung auffassen, ist es gestattet, zu sagen, beide Systeme bewegen sich jedes in dem andern. Ganz dasselbe gilt auch von räumlichen Systemen oder Gebilden, und nur der Einfachheit wegen haben wir den speziellen Fall zweier ebener Systeme hervorgehoben. Bleiben wir zunächst bei der Bewegung ebener Systeme stehen. Die Bewegung von Σ1 in Σ2 ist durch zwei Bedingungen bestimmt, z.B. dadurch, daß zwei Punkte von 2, auf zwei gegebenen Linien von Σ1 bleiben müssen. Durch diese zwei Bedingungen sind auch für die Bewegung von Σ2 in Σ1 die zwei bestimmenden Bedingungen gegeben. Sie bestehen darin, daß jene beiden Linien fortwährend durch die genannten zwei Punkte hindurchgehen müssen. Diese Bedingungen kehren sich daher in ihrer Bedeutung für die Bewegung des einen oder andern Systems in gewissem Sinne um. Dies veranlaßt, daß man die beiden Bewegungen überhaupt Umkehrungen voneinander, d.h. jede die Umkehrung der andern nennt. Diese doppelte Bedeutung der Bewegung zweier Systeme gegeneinander nennt man daher auch nicht unpassend den Dualismus der Bewegung.

Es ist gut, sich beide Bewegungen zugleich vorzustellen. Als ein bequemes Hilfsmittel für die Ableitung der einen aus der andern kann folgendes dienen. Die Bewegungen der Systeme Σ1 und Σ2 werden nicht geändert, wenn man beiden zusammen wie einem System eine gemeinsame Bewegung in einer Ebene Σ3 erteilt. Wählt man nun zu dieser hinzugefügten gemeinsamen Bewegung jeden Moment die entgegen gesetzte von Σ1, so kommt Σ1 zur Ruhe und nimmt Σ2 diese entgegengesetzte Bewegung an. Man erkennt hieraus, daß alle Punkte von Σ2 genau die entgegengesetzten Bogenelemente mit entgegengesetzten Geschwindigkeiten und Beschleunigungen beschreiben wie die mit ihnen oben zusammenfallenden Punkte von Σ1; ähnlich für räumliche Systeme. Die Bewegung von Σ1 in Σ2 ist äquivalent dem Rollen einer gewissen Kurve C1 von Σ1 auf einer Kurve C2 von Σ2; die Bewegung von Σ2 in Σ1 oder die Umkehrung der Bewegung von Σ1 in Σ2 ist daher äquivalent dem Rollen von C2 auf C1. Geeignete Beispiele zur Erläuterung des Dualismus der Bewegung sind: die Cardanosche elliptische Hypocykloidenbewegung und ihre Umkehrung, die Ovalbewegung von Leonardo da Vinci; die Konchoidenbewegung des Nikomedes; die Cissoidenbewegung des Diokles (zwei kongruente Parabeln rollen symmetrisch aufeinander); die Bewegung der Erde um die Sonne. Bei der Cardanoschen Bewegung beschreiben die Punkte von Σ1 in Σ2 Ellipsen mit gemeinsamem Mittelpunkt und die von Σ2 in Σ1 Pascalsche Linien; bringt man Σ1 zur Ruhe, so kann der Mechanismus der Drehbank dazu dienen, die Umkehrung der Bewegung, nämlich die Ovalbewegung, hervorzurufen, und es beschreibt jeder Punkt von Σ1 auf der rotierenden Ebene von Σ2 eine Ellipse.


Literatur: [1] Chasles, Aperçu historique sur l'origine et le développement des méthodes en géometrie, Paris 1875, S. 408. – [2] Aronhold, Kinematische Geometrie, Verh. d. Vereins zur Bes.d. Gewerbefl., Bd. 51 (1872), S. 134. – [3] Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, Leipzig 1879, Bd. 1, S. 224 Und 225.

(Schell) Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 147-148.
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