Anschauung

[556] Anschauung bezeichnet im eigentlichen Sinn die Wahrnehmung durch den Gesichtssinn und zugleich die auf diesem Weg erlangte Vorstellung eines Gegenstandes; im weitern Sinn überhaupt das unmittelbare Erkennen eines Gegenstandes im Gegensatze zu dem durch das Denken, bez. durch Begriffe vermittelten; das erstere heißt auch intuitives, das zweite diskursives Erkennen. A. und Denken, d.h. die passive und die aktive Seite des Erkenntnisvorganges, wurden zuerst durch Kant scharf unterschieden, der aber zugleich zeigte, daß beide niemals getrennt bestehen können; durch bloße A. würden wir gar nicht einmal im stande sein, einen Gegenstand von einem andern zugleich angeschauten zu unterscheiden, da das Unterscheiden eine Funktion des Denkens ist, während anderseits dem Denken ohne A. aller Inhalt fehlte; A. und Denken gehören eben zusammen wie Stoff und Form. Philosophische Systeme, die (wie dasjenige Spinozas und Hegels) aus bloßen Begriffen heraus die vollständige Erkenntnis der Wirklichkeit zu entwickeln vorgeben, benutzen in versteckter Weise doch überall die (sinnliche) A., da sie sonst aus dem engen Kreis ihrer Definitionen nicht herauskommen könnten. Alle A. ist sinnlich; eine nichtsinnliche (intellektuelle) A., z. B. des göttlichen Wesens, ist zwar von Mystikern und einigen Philosophen (Fichte, Schelling) behauptet worden, der nüchterne Geist weiß jedoch von einer solchen Fähigkeit nichts. Wohl aber hat Kant nicht ohne Grund von der empirischen A. (a. posteriori) eine reine A. (a. priori) unterschieden, d.h. die anschauliche Vorstellung solcher Objekte und Verhältnisse, die in der sinnlichen Wahrnehmung niemals verwirklicht sein können, wie die Figuren der Geometrie. Vgl. Raum. – Künstlerische A. ist die Fähigkeit, sich Dinge und Vorgänge des Lebens sinnlich deutlich, lokal und zeitlich bestimmt, in großem Zusammenhang und harmonisch geordnet vorzustellen. Vgl. Phantasie.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 556.
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