Anschauung

[50] Anschauung – Ich habe (Kr. d. Spr. III. 280) vorgeschlagen, Anschauung nur für solche Wahrnehmungen zu sagen, die noch nicht Begriffe sind, die noch unter keinen Begriff subsumiert[50] werden können, weil sie zum ersten Male da sind. Für solche unmittelbare Wahrnehmungen, wie wenn ein ohne Schulunterricht aufgewachsenes Kind zum ersten Male einen Löwen sähe, wirklich sähe, in einer Jahrmarktsbude. Oder wenn ein Neger zum ersten Male Eis sähe. Liegt keine unmittelbare Wahrnehmung eines konkreten Gegenstandes vor, so reden wir ja nicht von Anschauung; auch dann nicht, wenn die Subsumierung darum nicht möglich ist, weil der Gegenstand einzig in seiner Art ist. Die Peterskirche in Rom ist einzig; aber ihre Anschauung erlebe ich erst durch wirkliche unmittelbare Wahrnehmung, nicht durch begriffliche sprachliche Beschreibung. Eine Doktorfrage wäre es, ob eine gute Zeichnung, ein Bild, Anschauung vermitteln könne.

Nach diesem Vorschlage wäre endlich eine sachliche Scheidung möglich zwischen der vorsprachlichen und der sprachlichen Erfassung der Welt; denn sowie eine Wahrnehmung an eine frühere ähnliche (gleiche sagt man oft) angegliedert wird, Gedächtnis, Klassifikation, Sprache, Wissenschaft in Tätigkeit versetzt, ist sie keine reine Anschauung mehr, ist sie schon ein Denkakt. Hierin sehe ich den tiefem Grund für den Gegensatz zwischen Kant und Schopenhauer; Kant hatte in seiner Habilitationsschrift behauptet: intuitus mentis nostrae semper est passivus; Kant, der doch die Aktivität der Seele später in den Mittelpunkt stellte und Raum und Zeit geradezu zu Anschauungsformen machte, Anschauungen also von der Mitarbeit der Vernunft abhängig machte. Schopenhauer behauptete dem ersten Kant gegenüber die Intellektualität aller Anschauung; er geht so weit, der Anschauung die Präexistenz des Kausalitätsbegriffs zugrunde zu legen und aus dieser Zeitfolge den logischen Schluß zu ziehen, daß – Hume mit seiner Herleitung der Kausalität (oder was man so nennt) aus der Erfahrung unrecht gehabt habe.

Mein Vorschlag würde dem Sprachgebrauche ein Ende machen, der unter Anschauung alle möglichen Akte mitversteht. die häufig oder gewöhnlich mit der Wahrnehmung verbunden sind. Kants hübscher Satz ist berühmt geworden, wenn Ruhm anders im kleinen Kreise philosophierender Schriftsteller möglich[51] ist: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Ganz richtig, wenn da unter Gedanken Begriffe, unter Anschauungen eben die vorbegrifflichen Wahrnehmungen gemeint sind; wenn z.B. der eine von Unendlichkeit reden hört, ohne sich etwas dabei denken zu können, wenn der andere den hellen Stern am Himmel sieht, was man so sehen nennt, aber keine astronomischen Daten mit dieser blinden Anschauung verbindet. Wobei noch zu beachten, daß Kant die Meapher blind offenbar darum gewählt hat, weil die Metapher Anschauung von Gesichtseindrücken hergenommen ist; wie gut das Bild ist, mag mancher erst erkennen, wenn er etwa akustische Anschauungen (sit venia verbo) taub nennen wollte.

Die Herbartianer nennen eine Wahrnehmung erst dann Anschauung, wenn Aufmerksamkeit auf ihren Gegenstand gerichtet ist; ich fürchte, daß da der gewöhnliche Sprachgebrauch direkt umgekehrt wird. Auch Riehls Behauptung, Impressionen würden erst dadurch zu Anschauungen, daß sie als Teile von Zeit und Raum erscheinen, scheint mir die gleiche Willkür zu enthalten; Raum und Zeit werden erst bei Aufmerksamkeit zu Formen jeder Anschauung, erst, wenn die Aufmerksamkeit auf Raum oder auf Zeit gerichtet ist. Dann freilich ist eine Anschauung ohne Beziehung zu Raum und Zeit nicht möglich. Aber vor der Einstellung der Aufmerksamkeit auf die beiden Anschauungsformen (ich gebrauche das Unwort mit Widerstreben; Anschauungsdingsda hätte ungefähr den gleichen Bedeutungswert; man vergleiche dazu Artikel: Form) hat die Anschauung keine Beziehung zu Raum oder Zeit. Denn die Anschauung ist eine psychische Tätigkeit. Etwas anderes ist es, daß der Gegenstand der Anschauung, weil konkret, jedesmal nach Raum und Zeit bestimmt werden könnte.

Daß Anschauung ihrem Wesen nach intellektual sei, d.h. daß die physiologischen Notierungen der Sinne erst vom Verstande gedeutet werden müssen, um zu Wahrnehmungen zu führen, das ist seit Kants Vernunftkritik allmählich Gemeingut der Psychologen und am Ende auch der Physiker geworden. Prädikativ gebraucht hat so das Adjektiv intellektual einen[52] guten Sinn. Als artbildendes Attribut hat es aber den Begriff intellektuelle Anschauung geschaffen, mit dem von Philosophen und Okkultisten so viel Unfug getrieben worden war, daß Schopenhauers Zorn gegen dieses Wort nur recht hatte.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 50-53.
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