Wahrheit

[658] Wahrheit, lat. veritas, italien. verita, frz. vérité, engl. truth, ein Wort, über dessen tiefsten Kern die Philosophen bis heute außerordentlich viel redeten und schrieben und so wenig Befriedigendes vorzubringen wußten als über die Gottheit selber, so daß der einzige vernünftige Ausweg der bleibt, entweder die Kirche als Trägerin der absoluten W. gläubig an zunehmen oder an aller W. d.h. unumstößlichen Gewißheit zu verzweifeln und sich mit Wahrscheinlichkeiten zu begnügen. Christus selber nennt sich die W. u. das Leben (Joh. XIV. 6); in diesem Sinne bedeutet W. die vollkommenste Uebereinstimmung unserer Gedanken u. Handlungen mit den Ideen und dem Willen Gottes d.h. soviel als Weisheit; an andern Bibelstellen erscheint W. gleichbedeutend mit Treue im Worthalten, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit vor Gott. Im gewöhnlichen Sprachgebrauche heißt W. der Gegensatz zur Lüge, zum Irrthum; in der Wissenschaft nennt der eine wahr dasjenige, was mit den allgemein gültigen ewigen Vernunftgesetzen übereinstimmt, mit andern Worten das, was ich gleich allen andern gesund organisirten Menschen als richtig anerkenne, der andere findet die W. in der Uebereinstimmung unserer Vorstellungen mit ihren Gegenständen, womit die W. wiederum in das Gebiet des bloßen Glaubens u. Meinens schon deßhalb versetzt wäre, weil unzählige u. gerade die wichtigsten, nämlich die übersinnlichen Gegenstände dem Bereiche unserer Untersuchung u. damit jeder Vergleichung zwischen Vorstellung u. Gegenstand entrückt sind. Mit den verschiedenen Versuchen zur Lösung der alten Frage, was W. sei (Joh. XVIII. 38) hängt zusammen eine Menge von mehr oder minder wesentlichen u. verwirrenden Unterscheidungen von W.en, so namentlich: objective W., die Uebereinstimmung unserer Vorstellungen mit ihren Gegenständen, subjective oder formelle, Uebereinstimmung unserer Vorstellungen mit den Vernunftgesetzen; empirische W., die auf Erfahrung, historische, die auf geschichtliche Zeugnisse gegründete W.; praktische W., die auf das wirkliche Leben sich beziehende od. für dasselbe brauchbare, religiöse, die dem Gebiete der Religion u. Offenbarung angehörende W. u.s.f. Natur-W., die Uebereinstimmung eines Kunstwerkes z.B. eines Gemäldes, mit seinem in der Natur vorliegenden Gegenstande, Kunst-W., die Uebereinstimmung eines Kunstwerkes mit der Idee, deren Ausdruck das selbe sein soll. – Vergl. Beweis, Dogmaticismus, Glaube, Logik.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 658.
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