Wille [1]

[723] Wille der (stammverwandt mit Wahl und Wohl, wie das latein. voluntas mit velle), heißt bei den Philosophen die von allem in u. außer ihr unabhängige freie Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen. Als bestimmter W. hat er zum Inhalte das Interesse, welches ihn in Bewegung setzt sowie Entscheidungsgründe (Motive), die ihn für od. gegen etwas bewegen, frei aber wird der bestimmte W. genannt, insofern dieses Etwas dem Sittengesetze entspricht, unfrei, insofern es demselben widerspricht. Die Anthropologie, besonders die Lehre von der Seele u. vom Geiste, hat näher auseinanderzusetzen, in welch innigem Zusammenhange mit dem Gefühls- und Erkenntnißvermögen das W. nsvermögen steht und wie letzteres von der untersten Stufe des Wollens dem sinnlichen Begehren der Außenwelt sich bis zur obersten, zum geistigen Wollen allmälig entwickelt. Im Allgemeinen behandelt man als unterste Stufe des Wollens den Trieb und Instinct, entwickelt dann die Wesenheit und Formen des geistig bewußten Begehrens, wo die Wahlfähigkeit hervortritt u. der Trieb hinsichtlich seiner Richtung, der Art und Weise seiner Befriedigung sowie hinsichtlich der Erreichung seiner Zwecke bestimmt und beherrscht wird (Gier, Begierde, Lusttrieb). Vom geistig bewußten zum selbstbewußten Begehren emporsteigend behandeln die Psychologen die Neigungen, welche aus dem Gemüthe des Menschen stammen, bestimmte und bleibende Interessen haben u. sich ihres Zweckes: dauernder Befriedigung, klar bewußt sind. Näher aber kommt hier zur Sprache: a) das individuelle Wollen, die subjective Willensrichtung, welche das individuelle Ich zum Bestimmungsgrunde u. Zweck der Welt setzt (Selbsterhaltungs-, Lebens- u. Geschlechtstrieb, Unabhängigkeits- u. Ehrliebe, dann Eigenthumsliebe, die Neigung für Familienleben, Stand, Stamm, das eigene Volk, endlich Affecte u. Leidenschaften); b) das allgemeine Wollen, welches das Sittengesetz zur W. nsrichtung [723] macht, dasselbe als Weltgesetz erkennt und anerkennt, der Charakter als der durch die Zucht des Gesetzes gebildete W.; endlich c) die Einheit des individuellen und allgemeinen W.ns, das geistige Wollen, welches den sinnlichen Menschen dem geistigen unterordnet, die Ideen der Sittlichkeit und Schönheit, das Wirken für einen absoluten Zweck und ein absolutes Gut, das Urbild alles Guten und Begehrungswerthen, Gott, zum Inhalte u. Ziele hat. – Die Freiheit des menschlichen W.ns ist eine unmittelbare Thatsache des Bewußtseins u. als solche eines Beweises weder fähig noch bedürftig, sie ist auch eine Grundlehre des positiven Christenthums, für deren Wahrheit das Gewissen das evidenteste Zeugniß ablegt; aber die nähere Auseinandersetzung, wie und inwiefern unser W. an sich frei sei, gehört zu den schwierigsten Fragen der Metaphysik, die Auseinandersetzung des Verhältnisses der menschlichen Freiheit zur göttlichen Gnade zu den schwierigsten Aufgaben der speculativen Theologie (F. Wörter gibt »die christliche Lehre über das Verhältniß von Gnade und Freiheit von den apostolischen Zeiten bis auf Augustinus« heraus, erste Hälfte Freib. 1856). – Absoluter W., der durchaus reine u. schrankenlose, der göttliche W.; böser W., der dem Sittengesetz widersprechende W., dann auch verstockte Halsstarrigkeit; W. ensgesetze oder Gesetze der praktischen Vernunft, in der Kant'schen Kunstsprache die Rechts- und Tugendgesetze; willig, wer etwas gern thut od. unterläßt; Willkür, der W., insofern er zwischen entgegengesetzten Bestimmungen lediglich nach subjectivem Ermessen od. gemäß der momentanen Gemüthsstimmung kürt d.h. wählt, dann der unbestimmte, im Uebergang zum Bestimmten begriffene W.; wollen, jedes Streben, dessen Ziel dunkel oder klar vorgestellt wird; freies Wollen, das von äußerm Zwange unabhängige, dann das tugendhafte Wollen. – Vergl. Erbsünde, Erlösung, Freiheit, Gnade, Moral, Pelagianer, Philosophie, Psychologie, Sünde.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 723-724.
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