Demagōg

[623] Demagōg (griech., »Führer des Demos, Volksführer«), im alten Griechenland derjenige, der durch persönliches Ansehen und Kraft der Rede das Volk beherrschte und daher dessen Berater und Leiter war. Jetzt hat das Wort D. meist eine üble Bedeutung, die ursprünglich nicht darin lag. Nach der Verschiedenheit der Verfassungen der Staaten und im Verlauf der Zeit hat das Wort D. sehr verschiedene Bedeutungen erhalten, die alle Abstufungen vom Volksführer bis zum Volksverführer umfassen. Beispiele sehr verschiedenartiger Demagogie bietet besonders die Geschichte Athens. So war Perikles mit seinen demokratischen Bestrebungen ein D., so hoch er auch sonst übereinem Kleon, Hyperbolos u. a. stehen mochte, die ihren Einfluß auf das Volk zu selbstsüchtigen Zwecken mißbrauchten. Das alte Rom gibt ein vollständiges Bild vom Entstehen bis zum Untergang der Demagogie und damit der Freiheit des Bürgertums. Solange nämlich die Verfassung unangefochten aristokratisch war, konnte eine eigentliche Demagogie nicht zur Geltung kommen. Erst als die Plebejer ihre politische Ohnmacht zu empfinden begannen, griff mit dem Kampf der Demokratie gegen die Aristokratie auch die Demagogie in das öffentliche Leben ein. Von der höchsten Wichtigkeit wurde die Einrichtung der Volkstribunen, die fortan als die bevorrechteten Demagogen des römischen Volkes dastehen. Im Tribunat vereinigten sich Macht und Gunst des Volkes, und nach demselben begann daher, je rascher die Demokratie Sieg auf Sieg gewann, ein wahrer Wettlauf der Ehrgeizigen und Herrschsüchtigen, obgleich diese Würde mit jedem solchen Sieg immer mehr an ihrer Bedeutung verlieren mußte. Die Notwendigkeit dieses Instituts im Kampf war die Seele desselben; nach dem vollständigen Sieg des demokratischen Gedankens konnte es die Herrschaft um so weniger behaupten, als die Entsittlichung bereits zu tief um sich gegriffen hatte. Darum scheiterten die hochherzigen Bestrebungen mehrerer römischer Demagogen, wie die der Gracchen, und so kam es, daß durch Talent und Glück siegreiche Feldherren die Gewalt an sich rissen und Senat und Volk unter die Herrschaft der Imperatoren fielen. Auch im neuern Staatsleben sind nicht selten neben die Staatsmänner, in deren Händen gesetzlich die Leitung des Staates lag, Demagogen aus der Mitte des Volkes getreten, die vermöge einer frei übertragenen Autorität an der Spitze der Bewegung standen. Wenn sie sich mit Glück und Geschick dauernd behaupteten, legten sie meist ihren Charakter als Demagogen ab; in der Regel aber geht der D., nachdem er die Volksgunst verloren hat, im Kampf mit der gesetzlichen Staatsgewalt unter. Der heutige Sprachgebrauch versteht untereinem Demagogen einen Menschen, der auf die Leidenschaften und die niedrigen Neigungen des Volkes spekuliert, in aufwieglerischer Weise um die Gunst der großen Menge buhlt und staatsgefährliche Agitationen betreibt. Diese Absicht legte man auch den geheimen politischen Verbindungen bei, die sich nach der Gründung des Deutschen Bundes infolge der Unzufriedenheit mit der neuen politischen Gestaltung Deutschlands bildeten. Man bezeichnete deren Wirken mit dem Namen demagogische Umtriebe, zu deren Unterdrückung und Bestrafung die Mainzer Zentraluntersuchungskommission niedergesetzt wurde. Die Überschwenglichkeiten des Burschentums jener Zeiten und einzelne beklagenswerte Ausschreitungen, wie namentlich die blutige Tat Sands, riefen jene häßliche »Demagogenriecherei« hervor, und Männer wie Jahn, Arndt u. a. hatten darunter zu leiden, nachdem der deutsche Bundestag selbst infolge der Karlsbader Beschlüsse gegen die demagogischen Umtriebe vorgegangen war. Ähnliches ist auch 1830 nach der französischen Julirevolution und nach den Erschütterungen, welche diese in Deutschland nach sich zog, geschehen, indem 1833 durch Bundesbeschluß eine anderweitige Zentraluntersuchungskommission in Frankfurt a. M. niedergesetzt wurde.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 623.
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