Gewalt

[775] Gewalt (Gewalttätigkeit) ist die Anwendung erhöhter körperlicher Kraft zur Überwindung eines Widerstandes, mag dieser durch den Körper eines Menschen oder durch einen Gegenstand geleistet werden (physischer Zwang, vis absoluta oder atrox). Sie unterscheidet sich dadurch von der Drohung (psychischer Zwang, vis compulsiva oder major), obwohl sie wie diese Mittel sein kann, die Freiheit der Willensbetätigung auszuschließen oder zu beeinflussen. Zu diesem Zwecke kann sie sich entweder unmittelbar gegen die Person des zu Vergewaltigenden richten, oder aber gegen dritte Personen (den Führer des Blinden) oder gegen Sachen (Zertrümmerung eines Reisewagens, um die Weiterreise zu verhindern). Die G. kann Mittel zur Begehung der verschiedensten Verbrechen (Raub, Notzucht etc.) sein; sie ist aber neben der Drohung das spezifische Mittel zur Begehung der Freiheitsverbrechen (s.d.). – Die Anwendung unwiderstehlicher G. versetzt den Angegriffenen in einen Notstand (s.d.), sofern sie rechtswidrig erfolgt, in den Zustand der Notwehr (s.d.); die in solcher Lage begangenen Rechtsverletzungen bleiben straflos.- Höhere G., vis major, nennt man ein Ereignis, das durch die größte Sorgfalt und die besten Vorkehrungen unabwendbar ist. Sie hemmt die Verjährung, falls sie die Ursache der Verhinderung einer Rechtsverfolgung war (§ 203 Bürgerliches Gesetzbuch), beseitigt die Haftung des Gastwirtes für eingebrachte Sachen seiner Gäste (§ 701 ebenda), begründet die Rechte der Erben auf Verlängerung der Inventarfrist, falls sie die Ursache der Nichteinhaltung der gesetzlichen war (§ 1996 ebenda), befreit den Unternehmer von seiner Schadenersatzpflicht, wenn bei dem Betrieb einer Eisenbahn ein Mensch getötet oder verletzt wurde (§ 1 Haftpflichtgesetz) und schließt die Haftung der Eisenbahn und Post für Verluste und Beschädigung des Frachtgutes aus (§ 456 Handelsgesetzbuch). Vgl. Rümelin, Der Zufall im Recht (Freiburg 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 775.
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